Wo der Weg das Ziel ist: 48 Stunden Kraft tanken im Böhmerwald
Einen gesunden Abstand zur Welt bekommen – und dabei auch noch gut essen, gut schlafen und gute Energie aufladen. Im Böhmerwald ist alles möglich.
Da hock ich also auf allen Vieren in einem Meer aus Wildkräutern, tauche meine Nasenspitze in den Duft und vernasche drei Gänseblümchen. Direkt von der Wiese, ohne einen Finger zu rühren. Ein seltsamer Anblick, für Christine Stummer aber kein ungewohnter – schließlich stiftet sie selbst die „Auszeitler“ auf ihrer Kräuteralm in der Gemeinde Klaffer am Hochficht dazu an. „Das ist die Feuertaufe, da muss jeder durch. Sie macht offen für alles, was danach kommt und bringt obendrein ein ganzes Jahr Glück“, lacht die Kräuterpädagogin, die sich auf 800 Metern Seehöhe, umringt von naturbelassenen Böden und mächtigen Granitsteinblöcken, ihr kleines Paradies geschaffen hat. Ob das mit dem Glück stimmt, weiß ich noch nicht. Aber ja, auf das was kommt, bin ich gespannt.
Liebe, Leidenschaft und wilde Kräuter
Wir pflücken Brennnesseln und rühren damit Butter an, brühen Löwenzahnwurzel-Kaffee und pflanzen Erdäpfel im Heubeet. Dazwischen streut Christine die eine oder andere Kunde aus der Welt der Wildkräuter ein. Ich weiß jetzt, dass sich Spitzwegerich toll als Hustensirup macht, die Wurzel von Ferkelkraut (wer es einmal berührt, versteht, warum es so heißt) in die Suppe gehört, Johanniskraut-Öl Sonnenbrand lindert und so manche Pflanze die Liebeskraft kitzelt. „Wildkräuter sind halt meine Leidenschaft“, stellt das waschechte Böhmerwaldmädel klar. „Und die geht so weit, dass ich mit 52 Jahren meinen Bürojob an den Nagel gehängt und mit meinem Mann Fred einen ganz neuen Weg eingeschlagen habe.“ Der führte sie bewusst zwei Schritte zurück: „Zurück zur Natur, zurück zur Einfachheit. Das ist unser größter Luxus.“
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Tausendsassa Brennnessel
Aber was macht diese Faszination aus? Ist es der Duft, der Geschmack, die Wirkung? „Es ist das Gesamtpaket. Wildkräuter sind schön anzuschauen und köstlich – und wenn ich dann auch noch weiß, wozu sie gut sind, geht es nicht besser. Bei uns landen sie jeden Tag auf dem Teller.“ Ein Glück für mich. Denn das, was nach getaner Arbeit aufgetischt wird, hab ich so noch nie gesehen, geschweige denn gegessen. In Ringelblumenbutter gewälzte Frischkäsekugeln, Brennnesselrolle, Brennnessellaibchen mit Kräuterdip. Ich bin satt, auf ungewöhnlich wohltuende Weise. Und das ist noch nicht alles: Ich weiß jetzt, wie die Kräuter aussehen, wie sie verarbeitet werden und ich kann es kaum erwarten, die Speisen daheim nachzukochen. So trage ich ganz unbemerkt, während der Brennnessel-Rhabarberkuchen auf meiner Zunge zergeht, meinen Teil dazu bei, Christines Vision ein Stück weit in die Welt zu tragen: Was auf der Kräuteralm passiert, soll nicht (nur) auf der Kräuteralm bleiben.
Horte der Heimeligkeit mitten im Wald
Das war schon meine zweite Lektion in Sachen Nachhaltigkeit an diesem Tag. Ein paar Stunden vorher hab ich mich selbst dabei ertappt, zärtlich über einen Holztisch zu streicheln und Schafwoll-Pölster durchzukneten. Ich musste einfach, die Materialen haben nach mir gerufen. Und das, nachdem ich schon ziemlich lange in wippende Baumwipfel gestarrt, gelesen und dem Herzschlag der Stille gelauscht habe. „Alles richtig gemacht“, lobt mich Günter Hofbauer, selbst ernanntes Waldkind und begeisterter Bergführer, der mit seiner „Ramenai – das Böhmerwaldlerdorf“ in Ulrichsberg die alte Tradition der Bauern und Knechte wiederaufleben lässt. Neun Holzhütten, neun Horte der Heimeligkeit. Schlicht, stilvoll und so aufregend unaufgeregt, dass man gar nicht anders kann, als loszulassen. „Chill die Basis, würde meine Tochter sagen. Ich rate dazu, den Wald einfach wirken zu lassen, um einen gesunden Abstand zur Welt zu bekommen“, so Günter. „Es duftet nach Tannen und Fichten, die Vögel zwitschern und der Wind rauscht durch die Bäume. Das Moos, die Rinde, der Wald berührt einfach alle Sinne.“
Wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen
Stimmt. Und mit ein bisschen Glück hoppelt beim abendlichen Schwitzen in der hütteneigenen Sauna mit Blick ins Gehölz dann auch noch ein Kaninchen vorbei, um Fuchs und Hase gute Nacht zu sagen. Die Ramenai, benannt nach dem Bach, der etwas südlich von Schöneben in die Große Mühl fließt, kommt nämlich ohne einen Kübel Beton und Asphalt aus. Die Häuschen stehen auf Schraubfundamenten, der Boden darunter darf sein, wie er will. Und genau da fühlen sich die Langohren halt wohl. Die Seele baumeln lassen geht hier aber auch im wahrsten Sinne des Wortes – und zwar hoch oben. Gipfelstürmer Günter liebt es, seine Gäste im eignenen Naturhochseilgarten zu bewegen: acht Kletterparcours mit Brücken, Balken und Seilen, von Baum zu Baum kraxeln, schwingen, balancieren. Wem das noch immer nicht reicht, der erklimmt das Baumbett und zählt vor dem Einschlafen nicht nur Schäfchen, sondern auch Sterne.
Erden am Weg der Entschleunigung
Ich bleibe lieber am Boden, und zwar in jeder Hinsicht. Gut, dass am nächsten Tag ein Weitwanderweg auf insgesamt 165 Kilometern und neun Etappen eine Erdung der besonderen Art verspricht: Von den Tälern der Großen, Kleinen und Steinernen Mühl bis hinauf zum Böhmerwaldkamm, durch Äckerflure und Weiden, führt der Weg der Entschleunigung, vorbei an zahlreichen, uralten Kraftplätzen (mit zum Teil sagenumwobener Vergangenheit). Der stärkste unter ihnen ist die Teufelsschüssel in Schwarzenberg, quasi der Blocksberg des Böhmerwaldes. Einst trieben hier Hexen und Konsorten ihr Unwesen, heute ist die Felsenburg ein Ort zum Auftanken und Verweilen. Ich erklimme sie, lege meine Hände auf den kalten Stein und schließe die Augen. Kraft, Muße, Lebenslust – ja, tatsächlich, da spür ich was. Ist das Wunschdenken, Spinnerei, Wirklichkeit oder von allem ein bisschen? Egal. Es liegt auf jeden Fall auch am Granit, lasse ich mir sagen, es enthält die radioaktiven Elemente Uran und Thorium. Allerdings nur in so geringer Dosis, dass es den Körper nicht schwächt, sondern, im Gegenteil, auflädt und die Selbstheilungskräfte ankurbelt. Übrigens: Die Energie, die jeder Kraftplatz verströmt, variiert in Stärke und Beschaffenheit. Man sollte es also nicht gleich übertreiben.
Abtauchen im Steinernen Meer
So frisch aufgeladen brenne ich aber geradezu auf den nächsten Energie-Hotspot. Also setze ich zum Köpfler an und versinke kurz darauf im Steinernen Meer. Na gut, ganz so einfach geht’s natürlich nicht, die bizarre Gesteinswelt will schon bezwungen werden. Wäre ich jetzt allein mit ihr, würde ich hüpfen. Block für Block, Meter für Meter. Ich beschränke mich aber auf sehr beschwingtes Gehen und kann, oben angekommen, nur eines sagen: Wow. Was! Für! Ein! Ausblick! Ich bade geradezu im Panorama, und das bei einem Picknick mit regionalen Schmankerln. Die Steine sind groß genug, um sich gemütlich auszubreiten.
Showdown auf dem Hufberg
Schön langsam neigt sich mein 48-Stunden-Abenteuer im Oberen Mühlviertel dem Ende zu. Der Showdown steigt um Punkt 20.34 Uhr, das ist der Moment, in dem die Sonne hinter dem Dreisesselberg in Bayern verschwindet. Ich beobachte das Spektakel von gegenüber, dem Gipfel des Hufbergs. Die Borkenkäferplage hat dem Baumbestand hier stark zugesetzt, das sorgt vor allem um diese Uhrzeit für eine besonders mystische Stimmung. Da steh ich nun, mach große Augen und noch größere Pläne für meinen Sommerrlaub in der Region. Radeln will ich unbedingt, am besten auf dem Schwarzenbergischen Schwemmkanal (heute ein 52 Kilometer langer Radweg). Schwimmen sowieso, am liebsten in einem der herrlich kalten Flussbäder. Viel essen auf jeden Fall, vielleicht sogar eine Bauernbratl in der Rein. Oder ich wage gleich eine Mühlviertler Knödelroas … Und dann gibt’s da ja auch noch diesen Liebesfelsen. Da muss ich auf jeden Fall hin.