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Wie schmeckt eine Rosine? Na, süß halt, was sonst?, ist man spontan versucht zu sagen. Was ja auch stimmt. Aber eben auch nicht. Da ist noch viel mehr, wonach eine Rosine schmeckt. So viele Faktoren spielen in ihren Geschmack hinein, bereichern, ergänzen, vertiefen, erweitern ihn. Etwa, wie sich die Rosine anfühlt, erst klebrig-trocken, dann saftig. Der erste Biss offenbart Süße, aber war da nicht auch eine Spur Säure? Und etwas Herbes? Oder war das nur Einbildung?

Während du kaust, das kleine Ding durch den Mund rollst, zubeißt, schmeckst, reinspürst in den plötzlich so spannenden Rosinenmatsch zwischen Zunge und Gaumen, schließt du die Augen – und fragst dich vielleicht, ob du damit vielleicht auch die vielen Sonnenstrahlen schmeckst, die diese kleine Rosine aufgesogen hat, als sie noch eine pralle Weinbeere war.

Jon Kabat-Zinn, weltberühmter Pionier der Achtsamkeitsbewegung, machte die sogenannte Rosinen-Meditation in der westlichen Welt bekannt (du findest die Übung am Ende dieser Geschichte). Eigentlich als Einstiegsübung zur Stressreduktion gedacht, eignet sich das bewusste Essen einer einzelnen kleinen Rosine ganz wunderbar, um unsere Sinne zu schärfen, allen voran den Geschmackssinn.

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Die Nase schmeckt, die Zunge riecht

Geschmack mit der Zunge erleben: Illustration eines Mundes der Nudeln isst in Form eines Genstranges

Bild: Carolin Eitel

Von unseren fünf Sinnen können zwei nicht ohne einander. „Fast 80 Prozent des Geschmacks werden über die Nase geliefert“, sagt die Wiener Psychologin Beate Handler, die mit ihrem Buch „Mit allen Sinnen leben – tägliches Genusstraining“ (Goldegg Verlag) Anleitungen zum bewussten Erleben der Sinne gibt: „Über den Rachen gelangen kleine Partikel der Nahrung von hinten auch in das Riechorgan. Auf diese Weise werden bestimmte Rezeptoren aktiviert. Geschmacks- und Geruchssinn sind untrennbar miteinander verbunden.“

Das gilt übrigens auch umgekehrt: Wir riechen offenbar auch mit der Zunge. Vor kurzem haben Wissenschaftler entdeckt, dass auf der Zunge nicht nur Geschmacks-, sondern auch Geruchssensoren liegen. Das würde also bedeuten, dass Geruch und Geschmack nicht erst im Gehirn zu einem Ganzen zusammengefügt werden, sondern bereits im Mund.

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Bewusstes Schmecken macht die Seele satt

Der Geschmackssinn ist nur zum Teil angeboren – tatsächlich wirkt ein Mix aus genetischer Veranlagung, kultureller Prägung und individuellen Kindheitserfahrungen. Von Geburt an sind etwa 50 Gene für unseren individuellen Geschmack verantwortlich, aber nicht alle, sondern bloß eine Auswahl dieser Gene ist auch „angeknipst“, wie israelische Forscher herausfanden. Welche das sind, obliegt der Laune der Natur.

Wie immer, wenn es um Gene geht, sind die na­türlichen Anlagen aber kein endgültiges Urteil, son­dern nur Neigungen, Tendenzen. Es lohnt sich also, den Geschmackssinn zu schulen, empfiehlt Beate Handler. „Wenn man übt, sich in den Geschmack zu vertiefen, ermöglicht das die Entfaltung positiver Emotionen und bewusstes Empfinden von Genuss auf allen Sinnesebenen“, sagt die Psychologin. Schmecken zu üben schult demnach unsere Sinn­ lichkeit – weit über den Genuss von Essen und Trin­ken hinaus.

Geschmacksknospen lassen sich trainieren

Lernen funktioniert aber – leider – nicht nur in eine Richtung. Man kann den Sinn für Geschmack auch wieder „verlernen“. Das passiert, wenn wir viele Fertiggerichte und verarbeitete Nahrung oder künst­liche Aromen zu uns nehmen. Oder wenn wir un­seren Geschmackssinn mit den immer gleichen Aro­men langweilen. Der Sinn „entschlummert“ dann, er wird sozusagen faul. Dazu kommt, dass im Laufe des Lebens die Zahl der Geschmacksknospen abnimmt. Wir starten mit rund 10.000 davon ins Leben, als Erwachsene haben wir noch an die 5.000, im Alter noch etwa 900. Das ist auch der Grund, warum die Dinge mit der Zeit anders schmecken.

Das heißt, ein möglicher, sehr einfacher Glücklich­macher unseres Lebens kommt uns mit der Zeit ab­handen – wenn wir nicht gegensteuern. Doch jetzt die gute Nachricht: Der Geschmacks­sinn lässt sich wieder wach küssen. Einfach, indem man sich ganz bewusst und ganz oft um ihn kümmert: ihn mit Vorfreude, sinnlichen Erfahrungen, vielen Aromen und Eindrücken herausfordert und verwöhnt, ihn einfach trainiert. Ganz wichtig ist dabei das langsame Kauen: „Die Grundvoraussetzung, um Genuss überhaupt wahr­nehmen zu können, ist nämlich Achtsamkeit“, sagt die Psychologin Beate Handler.

Der fünfte Geschmack – Omas Hühnersuppe

Süß, sauer, bitter, salzig – lange dachte man, das ist es mit den Geschmacksrichtungen. Doch da gibt es noch mehr. Ein Japaner namens Kikunae Ikeda legte 1907 die Geschmacksnote „umami“ fest. „Umami bedeutet übersetzt so viel wie Wohl­geschmack oder köstlich“, sagt Beate Handler. „Es ist eine Geschmacksqualität, die etwa Spargel, To­maten, Fleisch und reifer Käse gemeinsam haben, die aber weder als salzig noch als süß, bitter oder sauer beschrieben werden kann.“

Wer Parmesankäse mag, mag umami. Wer Grün­tee mag, auch. Und Omas Hühnersuppe – die ist auch umami (und war es schon vor 1907, als wir noch keinen Namen dafür hatten).

Schmecken lernen heißt lebensfit werden

Ganz neuen Geschmackserfahrungen begegnen Kleinkinder zunächst einmal skeptisch: „Bäh, mag ich nicht!“ Schmecken ist also ein Lernprozess – und tatsächlich weiß man, dass Kinder ein bestimmtes Essen zehn- bis zwölfmal probiert haben sollten, um wirklich zu wissen, ob sie es nicht mögen (oder vielleicht doch). Je früher Kinder lernen, genussfähig zu werden und „geschmackssinnvoll“ zu leben, desto besser entwickelt sich ihr Geschmackssinn – und desto fitter sind sie für die Herausforderungen des Lebens wie Zeit- und Leistungsdruck. „Weil die Fähigkeit, genießen zu können, nachweislich vor den negativen Auswirkungen vieler Stressoren schützen kann“, erklärt Beate Handler.

Ein Mix aus Anlagen, Erziehung, Kultur ... und Sehnsucht. Ob jemand Salzgurken mag oder nicht, kann angeboren sein (die Sache mit den 50 Genen). Oder gelernt, wenn etwa Papas Liebe zu Salzgurken ansteckend wirkt. Der dritte Faktor bei der Geschmacksentwicklung ist der kulturelle Hintergrund. Was wir früh kennen lernen, mögen wir üblicherweise auch. Mit den getrockneten Fischstreifen, die isländische Schulkinder wie Chips essen, kann man wahrscheinlich 80 Prozent aller heimischen Kids jagen – und mit dem satten Butterkäsegeschmack, den wir so lieben, fast jeden älteren Japaner.

Die Seele kostet mit

Geschmack ist ein ganzes Stück weit auch Erinnerung: Wir verbinden einzelne Geschmäcker mit ganzen Lebensabschnitten, mit Erlebnissen und Beziehungen. So hat jeder Mensch nicht nur ein individuelles Geschmacksempfinden, sondern auch ein individuelles Geschmacksgedächtnis. Deshalb vergessen wir niemals Omas Hühnersuppe und wollen, dass jede Hühnersuppe genauso schmeckt. Nicht nur nach Hühnerfleisch und Gemüse und Gewürzen, sondern vor allem nach langen Abenden an Omas Küchentisch, nach Liebe und Geborgenheit.

Sich durchs Leben zu kosten, Bissen für Bissen, öffnet also nicht nur den Geschmackssinn. Es nährt und stärkt auch die Seele.