Gisbert forscht: Warum brauchen wir ein Warum?
„Wer ein Warum zum Leben hat, erträgt fast jedes Wie“: Auf dem Zitat von Friedrich Nietzsche hat Viktor Frankl seine Logotherapie begründet und damit die Welt verändert.
Ein Warum zu haben soll mich erfolgreicher, glücklicher, gesünder machen, es soll mich sogar länger leben lassen. Unternehmen zahlen Unsummen dafür, sich einen „Purpose“ zu kaufen. Wie finde ich mein Warum, und was mach ich dann damit?, wollte ich wissen. Ich habe bei einer Expertin nachgefragt. Und in nicht einmal einer Stunde Antworten gekriegt, die viel besser waren als meine Fragen.
Das Warum ist unser innerster Antrieb, die mächtigste Motivation, die wir Menschen haben.
Gegen Ende unseres Skype-Interviews saß ich da auf meinem Schreibtischsessel vor der Computerkamera, kerzengerade aufrechter Rücken, Brust raus, die Schultern breit. Ich hatte die Augen geschlossen und lächelte ein wenig entrückt. Julia Schweiger, die Interviewpartnerin, von der ich alles über mein Warum erfahren wollte, sagte aus dem Monitor: „Gut schaut das aus!“ Dann sagte sie: „Wie fühlen sich denn jetzt Ihre Gliedmaßen an? Schwer oder leicht? Warm oder kalt?“
Ich kam mir ein bisschen komisch vor. Eigentlich war es ja meine Aufgabe in diesem Gespräch, Fragen zu stellen. Eigentlich hatte ich recht handfeste Anweisungen und eine straffe To-do-Liste erwartet, die mich auf möglichst direktem Weg zu meinem Warum führen würden. Nun stand ich, während ich am Schreibtisch saß, innerlich auf einer Waldlichtung im Morgenlicht, die Sonne blinzelte durch die Äste, ein paar frühe Vögel zwitscherten, ich hielt einen Korb in der Hand, in dem ein Taschenmesser lag und eine Serviette. „Und der Bauch?“, fragte Julia Schweiger. „Wie fühlt sich Ihr Bauch an?“
Nach seinem Warum zu suchen ist sehr modern, das eigene Warum hat unter erfolgreicheren Menschen mittlerweile schon beinah den Rang eines seelischen Statussymbols erlangt, in der Art eines inneren Tesla. Der US-Amerikaner Simon Sinek hat über das Warum ein dermaßen erfolgreiches Buch geschrieben („Start with Why“), dass die entscheidende Frage in seinem Leben inzwischen eher ein Wohin sein dürfte, nämlich mit all der Kohle, die er mit den Tantiemen verdient hat und mit den Honoraren als Vortragsredner und Purpose-Coach von Konzernen.
Und vielleicht ist das Warum ja wirklich der Schlüssel dazu, dass im Leben endlich alles klappt. Das Warum ist, wenn ich das richtig verstanden habe, unser innerster Antrieb. Die tiefste Wurzel, der sicherste Anker, die mächtigste Motivation, die wir Menschen haben. Ein Warum macht uns, wenn ich das richtig verstanden habe, zu einem Perpetuum mobile des Lebensglücks. Menschen, die ihr Warum gefunden haben, verdienen mehr Geld, leben gesünder und länger – an der Universität von Harvard wurde das im Jahr 2019 sogar durch Forschungsergebnisse bestätigt.
Und vielleicht ist das Warum ja wirklich der Schlüssel dazu, dass im Leben endlich alles klappt.
Ich las also Simon Sineks Buch (das wirklich interessant ist), ich schaute TED-Talks und YouTube-Videos von verschiedenen Lebenscoaches mit einem offensichtlichen Motivationsüberschuss, ich beantwortete im Internet Fragebögen wie „Die sieben Fragen, die Sie zu Ihrem wahren Lebenssinn führen“. Ich fand auf meiner Google-Odyssee ehrlich gesagt nicht viel Zählbares heraus, außer es gilt als zählbar, dass ich jetzt weiß, dass es tatsächlich eine Website mit der URL sinndeslebens24.de gibt. Das war kein innerer Tesla.
Als man mir empfahl, mit Julia Schweiger über meine Warum-Suche zu reden, schrieb man mir, sie verfüge über die erstaunliche Fähigkeit, dass Leute, die auf der Suche nach etwas sind, ohne ganz genau zu wissen, wonach, nach dem Gespräch mit ihr nicht nur genau wissen, wonach sie eigentlich gesucht, sondern es auch gefunden hatten. Ich musste den Satz zwar zweimal lesen, um ihn zu verstehen, aber er klang, als würde er zu mir passen.
Julia Schweiger ist diplomierte Lebens und Sozialberaterin beim Wiener Beratungsunternehmen consentiv und schöpft aus eigener Erfahrung, wenn sie über die Warum-Suche spricht. Sie studierte in Wien und den USA Politologie und Kommunikationswissenschaften, war im Burgenland Radiosprecherin, Journalistin und Pressesprecherin, lehrte an einer Uni in Tschechien, arbeitete drei Jahre bei der EU-Kommission in Brüssel. Dann war sie! Anfang dreißig, hatte einen Tinnitus und sagt: „Ich wusste, jetzt brauche ich was anderes, und habe darüber zu reflektieren begonnen.“
Am Ende der Reflexion stand ein One-Way-Ticket nach Costa Rica. Dort absolvierte sie eine Ausbildung zur Yogalehrerin. Als sie zwei Jahre später nach Wien zurückgekehrt war, hatte sie vor allem über sich selbst gelernt. „Ich hatte für mich entdeckt: Es geht darum, sich lebendig zu fühlen.“ „Wie man sich lebendig fühlt, das kann man lernen“, sagte sie. Und wenn man weiß, was das ist und wie das ist, wenn man sich lebendig fühlt, dann ist das ein sehr tauglicher Abschneider auf dem Weg zu diesem zauberhaften Warum.
Welche unglaubliche Wirkkraft darin steckt, wenn man die Dinge nicht nur einfach so tut, sondern im Sinne einer Sache (und sei sie noch so durchschaubar!), das entdeckte Schweiger nach ihrer Wien-Rückkehr in einer Yogaklasse.
Schweiger ließ ihre Schützlinge die Heuschrecke, eine undankbar anstrengende Asana in Bauchlage, Oberkörper und Beine angehoben, zuerst ganz normal üben. Dann hatte sie einen Gedanken. Ihre Schützlinge sollten die Heuschrecke ein zweites Mal durchführen, dieses Mal mit einem Auftrag: Sie sollten einen Arm nach vorn strecken, einen nach hinten, und sich vorstellen, einen entscheidenden Superwoman-Einsatz zu fliegen. Oder als Superman jemanden aus lebensgefährlicher Bedrohung zu befreien.
„‚Wen würdet ihr jetzt retten?‘, fragte ich in die Runde, ‚stellt euch das vor.‘ Ich sagte nur das. Und es war unglaublich. Die Beine, die Arme, die Oberkörper, alles ging nach oben. Und blieb oben. Viel, viel länger als davor. Da hab ich erkannt: Einen Grund zu haben, ein Warum, das macht einen Unterschied, das verändert etwas in uns, sogar physiologisch, bis hinein in die muskuläre Kraft und Ausdauer.“ „Ein Warum plus Emotion, das ist Kraft“, sagte Julia Schweiger ein wenig später im Verlauf unseres Gesprächs. „Ein Warum plus Wille oder ein Warum plus Verstand, das ist Disziplin.“
Dann fragte sie mich: „Darf ich Sie fragen, wann Sie sich lebendig fühlen?“ Ich sagte „Hm“ und dachte: Schwammerl suchen. Aber wenn ich jetzt sage, dass ich am liebsten Schwammerl suche, dann sagt sie vielleicht, dass mein Lebenszweck das Schwammerlsuchen ist, und ich glaube nicht, dass ich das hören möchte.
Also sagte ich nur: „Hm.“ Und: „Puh.“ „Wann haben Sie denn zum letzten Mal so richtig Spaß gehabt? Wann haben Sie sich zum letzten Mal so richtig sauwohl gefühlt? Wann waren Sie das letzte Mal so richtig neugierig auf etwas, gebanntvon etwas? Wann haben Sie das letzte Mal die Zeit vergessen?“ Leider wirklich beim Schwammerlsuchen,dachte ich. „Ich weiß nicht“, sagte ich. „Vielleicht eher privat.“Die Situation war mir mittlerweile ein bisschen peinlich.
Ich dachte: Wenn ein Warum plus Emotion Kraft ergibt und ein Warum plus Wille Disziplin ergibt, was bedeutet das für mein Leben, wenn mein Warum das Schwammerlsuchen ist? „Das kann ruhig so was Profanes wie Spazierengehen sein oder ein Strickkurs“, sagte Schweiger. „Okay, dann nehmen wir Schwammerlsuchen“, sagte ich. „Nur als Beispiel.“ „Sehr gut“, sagte sie.
Das muss man jetzt vielleicht erklären. Tatsächlich hat so was Profanes wie ein Strickkurs oder Schwammerlsuchen viel mit unserem Lebenssinn zu tun, mit Lebensbestimmung, Gesundheit, Erfolg und Langlebigkeit.
Es geht aber gar nicht um das, was es ist, was wir am liebsten tun, sagt Julia Schweiger. Es geht darum, was wir dabei empfinden, während wir uns bei einer Tätigkeit lebendig fühlen. Welche Signale unser Körper sendet, während wir etwas tun, in dem wir ganz eins sind mit uns. Es geht vor allem darum, dass wir diese Signale wahrnehmen lernen, abspeichern, sozusagen als das Vokabelheft unseres Körpers.
Es geht darum, unsere innere Stimme zu hören und die Sprache zu verstehen, in der sie mit uns spricht: Sie spricht in Bauchdrücken und kalten Füßen, sie drückt sich darin aus, ob unsere Schultern zusammenklappen und ob wir den Kopf hoch tragen, ob wir die Stirn in Falten legen oder die Augen zusammenkneifen. Unsere innere Stimme ist sehr präzise, sie lügt nie, sie schont uns auch nicht.
Sie redet nicht drum herum, wenn was nicht passt, aber sie sagt auch ganz unverblümt, wenn was super ist. Sie lässt sich nicht unter brechen, sie duldet keine Wider rede, es ist eine Sprache ohne Finten oder doppelten Boden. Und genau dann, wenn’s passt in unserem Leben, auch nur momentelang, können wir die Vokabeln üben, die uns den Weg zu unserem eigenen wahren Warum leiten. Unser stärkster innerster Antrieb ist schon in uns, und wir haben die Hinweisschilder dorthin eingebaut.
Unser stärkster innerster Antrieb ist schon in uns, und wir haben die Hinweisschilder dorthin eingebaut.
Das Allerbeste: Man kann diese Lebensvokabeln auch üben, egal wann, egal wo. Man kann auch innerlich, zum Beispiel, Schwammerl suchen gehen, während man am Schreibtisch sitzt. Man holt sich dafür die Waldlichtung, die Vögel, die durch die Äste blinzelnde Sonne hinter seine geschlossenen Augen. Und man hört seiner inneren Stimme zu, während man das tut; man achtet auf seinen Bauch, die Schultern, die Füße und die zusammengekniffene Falte zwischen den Augenbrauen.
Man kann sich mit diesen Gefühlen und Vokabeln erstens aufladen, wie eine Batterie der gelingenden Augenblicke. Und man kann, zweitens, lernen, im Alltag dieser inneren Stimme Gehör zu schenken, immer ein bisschen mehr. Man kann mit immer mehr Zutrauen ihr Angebot annehmen, uns in ein Leben zu begleiten, das immer reicher wird an lebendigen Momenten, weil wir sie bewusster wahrnehmen. Wir können dann erkennen, was gut für uns ist, und wir brauchen dann nur noch ein ganz kleines bisschen Mut, mehr von diesen Momenten in unser Leben zu holen. Oder vielleicht sogar gar nicht zu holen, sondern zu lassen?
Unsere innere Stimme, könnte man auch sagen, ist ein bisschen so was wie ein Geigerzähler des Glücks, der immer feiner funktioniert, je öfter wir ihn verwenden. Immer dann, wenn er anschlägt, dieser zauberhafte Geigerzähler, sind wir unserem Warum einen Tick näher gekommen.
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