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Herr Dr. Pitschnig, müsste ich nich ziemlich schlau sein, weil ich ein Navi bedienen kann? Oft höre ich nämlich, dass ich mir das Denken so abnehmen ließe ...

„Nein, es ist tatsächlich ein Zeichen von Intelligenz. Jemand, der kein GPS zu verwenden weiß, kann es folglich auch nicht für sich nutzen. Die landläufige Meinung, wir würden durch die Technologie unsere Raumvorstellungsfähigkeiten verlieren, ist viel zu vereinfacht. Das wäre ja so, als würde man sagen, die Seeleute von heute sind alle unfähig zu navigieren, weil sie GPS verwenden. Früher sind die Seefahrer mit einem Sextanten umgegangen, um die Position zu bestimmen. Waren die Seefahrer früher also alle schlauer als die Seefahrer von heute? Ich glaube nicht. Ein gängigeres Beispiel wäre: Nur weil es für uns heute selbstverständlich ist, einen Browser zu öffnen und durchs Internet zu navigieren, ist es nicht so trivial, wie es vielleicht scheint.“

Wir können heute auch mit so viel mehr raffinierten Gadgets umgehen als unsere Vorfahren. Wird die Menschheit also immer klüger?

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„Tatsächlich zeigt eine Studie der Universität Wien, dass seit Einführung des Intelligenztests im Jahr 1909 mit jeder Dekade der durchschnittliche Intelligenzquotient weltweit um zwei bis drei Punkte angestiegen ist. Bis 2013 waren es ganze 30 Punkte. Wir nennen das den Flynn-Effekt, nach dem Politikwissenschaftler Robert Flynn. Er hat das Phänomen in den 1980er-Jahren wissenschaftlich sichtbar gemacht.“

Aber weiß man auch, warum? Wie ist es uns gelungen, unseren Grips mit der Zeit so eklatant zu vermehren?

„Für den Flynn-Effekt gibt es viele Erklärungsansätze. Der plausibelste ist eine Kombi aus biologischen und umweltbedingten Einflüssen. In erster Linie ist da die verbesserte Ernährung ein wahrer Intelligenzbooster: Wir wissen ja, dass sich unsere Nahrung unmittelbar aufs Zentralnervensystem auswirkt, und das auch schon vor der Geburt. Je hochwertiger und reichhaltiger die Nahrung der werdenden Mutter, desto besser die Gehirnentwicklung beim Kind. Und je besser die Gehirnentwicklung, desto höher die kognitiven Fähigkeiten. Positive Auswirkungen haben natürlich auch die Bildung – Kinder sind heutzutage wesentlich länger in der Schule als früher – und die Verbesserung der medizinischen Versorgung und Hygiene.“

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Ernährung ist ein Intelligenzbooster. Wir wissen ja, dass sie sich unmittelbar aufs Zentralnervensystem auswirkt.

Dr. Jakob Pietschnig, Psychologe und Bildungsforscher

Und wie sieht es da mit der Wirkung von Smartphones auf unser Gehirn und somit auf unseren IQ aus?

„Diese Dinge wirken nicht unmittelbar auf die Intelligenz ein, hängen aber mit ihr zusammen – und vor allem mit ihrer Entwicklung. Nur: Das passiert ja nur bei einem sogenannten Overload. Die Verwendung von Smartphones an sich ist nicht der Intelligenz abträglich. Ebenso wenig wie fernzusehen oder durchs Netz zu surfen. Es kommt da auf die Quantität an. Die kulturpessimistische Sichtweise, die die ganze Digitalisierung als Teufelszeug einordnet, das uns verblödet, ist relativ simplifizierend. Genauso ist es aber mit der kulturoptimistischen Sicht, eben der Ideen, dass uns die modernen Technologien alle viel schlauer machen, weil wir unsere Fähigkeiten dadurch trainieren. Es ist beides nicht falsch, aber beides ist auch nicht ganz richtig. Moderne Technologien ändern unser Denken, die Anforderungen, die Spielregeln. Dementsprechend stehen sie natürlich ganz in der Tradition von allen anderen technischen Entwicklungen.“

Und welche Rolle spielt bei all den genannten Einflüssen die Vererbung? Bekommen schlaue Eltern auch schlaue Kinder?

„Nein, nicht zwangsläufig. Natürlich hat die Intelligenz eine genetische Komponente, aber auch die Umwelt spielt eine entscheidende Rolle.“

Wie lässt sich dieser Zusammenhang überhaupt nachweisen?

„Wir drücken das Ganze als Erblichkeit aus, wie sie ja auch für Persönlichkeitsmerkmale oder sichtbare Merkmale wie die Haarfarbe gilt. Schätzungen ergeben dann einen Wert zwischen 0 und 1, wobei 0 gar keine Erblichkeit bedeutet und 1 hohe Erblichkeit bedeutet. Zwillingsstudien lassen den Schluss zu, dass die Erblichkeit für Intelligenz in den Industrieländern zwischen 55 und 60 Prozent liegt. Bei der Interpretation muss man aber vorsichtig sein, das ist ein heißes Eisen. Grundsätzlich wird Erblichkeit nämlich eher abgelehnt, weil wir sie intuitiv, zumindest aus ideologischer Perspektive, als unfair empfinden. Dabei wäre aus einer humanistischen Perspektive eine hohe Erblichkeit der Intelligenz besonders wünschenswert, weil sie bedeutet, dass alle Mitglieder unserer Gesellschaft gleichermaßen gut gefördert werden.“

Welche Bausteine sind das, die das Gesamtkonstrukt Intelligenz ergeben?

„Ganz grob gesagt sind das die fluide und die kristalline Intelligenz. Erstere bezeichnet die Fähigkeit, schlussfolgernd zu denken, und ist etwa nötig, um Zahlenreihen fortzusetzen. Mit rund 18 Jahren erreicht sie ihren Zenit, dann nimmt sie ab. Kristalline Intelligenz ist angehäuftes Wissen, also beispielsweise die Antwort auf die Frage „Wie heißt die Hauptstadtvon Malaysia?“. Sie nimmt über das Leben hinweg stetig zu, ist aber stark kultur- und natürlich auch von der Bildung abhängig.“

Eine hohe Erblichkeit der Intelligenz wäre aus humanistischer Perspektive besonders wünschenswert, weil sie bedeutet, dass alle Mitglieder unserer Gesellschaft gleichermaßen gut gefördert werden.

Dr. Jakob Pietschnig, Psychologe und Bildungsforscher

Und was muss ich noch können, um als intelligent durchzugehen?

„Die Raumvorstellungsfähigkeit ist so ein Klassiker, aber auch die Orthografie, also die Fähigkeit, rechtschreiben zu können. Oder: Regeln selbst zu erkennen und anzuwenden, ohne instruiert zu werden.“

Ich verstehe. Und ein Intelligenztest klopft alle diese Komponenten ab?

„Den einen Intelligenztest gibt es nicht. Wir verwenden je nach Bedarf spezifische Fähigkeitstests, die nur ein bestimmtes Merkmal erfassen, wie zum Beispiel die Raumvorstellungsfähigkeit oder aber Testbatterien, also eine Kombi aus mehrerer Einzeltests, die verschiedene Dinge abklären. Damit kann man die Stärken und Schwächen einer Person abklären. Der Test zeigt mir, wie gut sie in der jeweiligen Fähigkeit, die ich zu erfassen versucht habe, abschneidet. Ob sie eher besser oder schlechter ist als ihre Nebenmenschen, oder ob sie im Sinne von statistischen Kriterien hochbegabt ist oder eine Lernminderung hat.“

Aber ist so ein IQ-Test nicht nur eine Momentaufnahme? Was, wenn ich an diesem Tag ein bisschen neben mir gestanden bin?

„Ja, ein IQ-Test ist tatsächlich eine Momentaufnahme, und deshalb sollten Sie das auch nicht machen, wenn Sie gerade ein traumatisches Erlebnis durchgemacht haben oder zum Beispiel extrem übermüdet sind.“

Haben Sie darüber hinaus eine Definition von Intelligenz – oder zumindest eine Idee?

„Ich denke, wir kommen ihr am ehesten nahe, wenn wir sagen: Intelligenz ist die gemeinsame Schnittmenge von Begabung, Weisheit und Klugheit. Es ist mehr als nur akademisches Wissen und beinhaltet eben vom schlussfolgernden Denken bis hin zum klassischen Buchwissen eine ganze Palette von kognitiven Fähigkeiten, die alle miteinander positiv verbunden sind. Eine allgemein anerkannte wortwörtliche Definition gelingt uns aber auch damit nicht. Der amerikanische Experimentalpsychologe Edwin Boring, bekannt durch seine doppeldeutigen Bilder, hat kurzerhand festgehalten: ‚Intelligenz ist das, was Intelligenztests messen.‘“

Und was ist dann Dummheit?

„Mit Dummheit beschäftige ich mich in meinem wissenschaftlichen Feld nicht. Aber ich würde sagen: Wenn Intelligenz die Fähigkeit ist, bestehende Ordnungen zu erkennen und aufgrund dessen Vorhersagen treffen zu können, dann ist Dummheit die Eigenschaft, dort Ordnungen erkennen zu glauben, wo gar keine Ordnungen bestehen.“

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Meinen Sie Verschwörungstheorien?

„Ja, auch das zählt dazu. In diesem Zusammenhang wäre die fälschlich erkannte Ordnung, dass beispielsweise alles, was auf der Welt passiert, von einer dunklen Macht koordiniert werde. Man etabliert also Kausalzusammenhänge, die es gar nicht gibt.“

Gut. Gehen wir noch einmal zurück zum Flynn-Effekt: Was meinen Sie, wie lange diese Kurve noch nach oben gehen wird? Werden unsere Ururenkel wahre Intelligenzbestien sein?

„Ich fürchte nicht, die Kehrtwende ist nämlich schon eingeläutet worden. Zum ersten Mal, seit Intelligenz gemessen wird, sinkt der IQ seit ein paar Jahren. Das ist der Anti-Flynn-Effekt.“

Wollen Sie damit sagen, dass wir nicht nur nicht schlauer, sondern sogar dümmer werden?

„Nein. Meine Interpretation ist eine andere als eine gesamtgesellschaftliche Verblödung. Es haben sich die Umweltbedingungen und Umweltanforderungen an unsere kognitiven Fähigkeiten geändert. Wir mussten uns deswegen geistig immer mehr spezialisieren. Wenn man das mit einem Zehnkampf vergleicht, dann haben wir einen Punkt erreicht, an dem wir in einzelnen Disziplinen Experten geworden sind, aber in anderen Disziplinen proportional mehr verloren haben. In Bezug auf Intelligenz führt das zu einer Umkehr des Flynn-Effekts und damit möglicherweise zu einer Abnahme des Bevölkerungs-IQ.“

Gibt es noch andere Phänomene, die diesen Abwärtstrend beeinflussen?

„Es ist einfach auch eine gewisse Sättigung des Flynn-Effekts eingetreten. So sind die positiven Auswirkungen einer optimalen Ernährung auf die kognitive Entwicklung eines Kindes enden wollend. Einfach gesagt: Ein bereits optimal ernährtes Kind wird durch noch mehr Nahrung nicht mehr klüger, sondern nur dicker. Und, es gibt auch das Phänomen der ‚sinkenden Erträge‘. Auf Beschulung umgelegt heißt das: Wenn ein Kind zwei Jahre in die Schule geht, wird es davon wesentlich mehr profitieren, als wenn es die Schule nur ein Jahr besucht. Ob ein junger Erwachsener aber zwölf oder dreizehn Jahre lang ausgebildet wurde, bedeutet einen geringen Unterschied für seine IQ-Entwicklung.“

Was kann ich selbst aktiv tun, um meinen IQ etwas nach oben zu treiben?

„Als Erwachsene leider gar nichts, in diesem Alter werden wir nicht mehr intelligenter. Die gute Nachricht ist aber: Wir können zumindest dem Abbau unserer kognitiven Fähigkeiten die Stirn bieten – das beste Werkzeug dafür ist geistige Betätigung. Dabei geht es nicht darum, eine bestimmte Sache wieder und wieder zu tun, es geht um Diversität. Zwanzig Sudokus pro Tag zu lösen wird nichts bringen. Wenn Sie aber obendrein Bücher lesen, ein Theater besuchen, mit Freunden diskutieren, mit offenen Augen durch die Welt gehen und meinetwegen auch fernsehen und Radio hören, tragen Sie aktiv dazu bei, Ihren Intellekt zu erhalten.“

Gibt es da so etwas wie ein kritisches Alter? Also den Knackpunkt, an dem es beginnt, rasant bergab zu gehen, wenn wir nicht gegenhalten?

„So ein typischer Problempunkt ist der Eintritt ins Pensionsleben. Kognitive Stimulation begegnet uns vor allem im Arbeitsleben immer wieder. Wenn wir viel mit anderen plaudern, denken wir dabei und beschäftigen uns irgendwie geistig. Wenn wir aber mit der Pension nicht mehr aktiv bleiben, kann das schon negative Auswirkungen haben.“

Und wie ist das bei Kindern? Wie lassen sich ihre grauen Zellen kitzeln?

„Bei Kindern wirken die angesprochenen kognitiven Stimulationen, also kontinuierliche und vielfältige Impulse, tatsächlich fördernd. Da kommt es mitunter wirklich zu einem nachhaltigen Anstieg der IQ-Maßzahlen. Man darf sich halt keine Wunder erwarten und sollte vorallem immer daran denken: Kognitive Förderung in verschiedene Richtungen hat nachweislich positive Auswirkungen auf Faktoren wie Lebenserfolg, Gesundheit und Lebenszufriedenheit und bewirkt damit noch so viel mehr Gutes als nur die Steigerung der Intelligenz.“

Nachgefragt bei: Dr. Jakob Pietschnig, Psychologe und Bildungsforscher der Universität Wien