Warum uns Langeweile auf lange Sicht glücklich macht
Über unser eingebautes Belohnungszentrum, die Wissenschaft rund um Dopamin und GABA, über Popcorn, Rückenschmerzen und den unheimlich schwierigen Verplemperter-Nachmittag-Test.
Der heimliche Herrscher des Universums sitzt in deinem Kopf, ist so groß wie eine Erbse und kann dich sehr glücklich machen. Oder traurig, krank und tot. Fangen wir mit tot an, dann haben wir’s hinter uns. Der „heimliche Herrscher“, von dem die Rede ist, ist das Belohnungs- und Lustzentrum in deinem Gehirn. Sein Mittelpunkt ist der Nucleus accumbens, ein ungefähr erbsengroßer Bereich ein paar Zentimeter hinter der Nasenwurzel im sogenannten Reptiliengehirn, dem innersten, ältesten und mächtigsten Teil unseres Gehirns. Ist dieser Erbsenbereich angeregt, geht es uns gut. Ist dieser Erbsenbereich nicht angeregt, geht es uns nicht gut. Es mag keine besonders schmeichelhafte Botschaft für unser Selbstwertgefühl als Krone der Schöpfung sein, aber: Unser Lebensglück passt in eine Erbse.
Der Platz reicht, weil unser Lebensglück keine besonders ambitionierten Ansprüche stellt. Die Natur hat nämlich vor ungefähr sieben Millionen Jahren beschlossen, dass der Sinn unseres Lebens das Leben ist. Sie macht uns das klar, indem sie uns immer dann am üppigsten mit Lebensfreude und Lebenslust beschenkt, wenn wir etwas tun, was unser Überleben – und damit den Fortbestand der Art – sichert: wenn wir uns fortpflanzen, wenn wir essen und trinken, wenn wir unser Revier behaupten, wenn wir von anderen Menschen Aufmerksamkeit kriegen, wenn wir etwas schaffen, was wir uns vorgenommen haben. Nichts bereitet uns so viel Freude wie das nackte Überleben.
Problematisch wurde alles, als wir lernten, den Erbsenkönig unseres Glücks zu kitzeln.
Wie problematisch, das weiß man seit 1954, als man Laborratten einen elektrisch leitenden Draht ins Belohnungszentrum gelegt und mit einem Taster versehen hatte. Die Ratten konnten damit also Glück, Rausch und Euphorie einschalten wie unsereins eine Glühbirne. Klingt nach Paradies, wurde Hölle. Die armen Viecher verloren innerhalb kürzester Zeit das Interesse an allem, was weniger Lust brachte als der Draht in ihrem Hirn – und das war alles, was kein Draht im Hirn war. Sie betätigten den Taster rasend, wie Irre, tausend, zweitausend Mal pro Minute. Manche knipsten sich tatsächlich zu Tode, weil sie vor lauter Tastedrücken auf die Nahrungsaufnahme vergaßen.
Hach, kann man jetzt sagen, Ratten ... auch nicht die Hellsten.
Nun ja. Wir Menschen haben Prosecco und Marlboro, wir haben Marzipankuchen und Pornos, Netflix und YouTube und einen Instagramfeed, wir haben Erfolgsboni und Lottoziehungen, wir haben iPhone X, Großbildmonitor und Amazon, wir haben E-Mail- und Whats- App-Notifications und Likes auf unsere Facebookpostings, wir haben Schokocroissants und Heroin und einen großen, vorteilhaft beleuchteten Spiegel in der Garderobe unseres Fitnesscenters. Und wir schlichten immer mehr Leben in immer weniger Zeit.
In einem US-Film des Jahres 1953 wurde durchschnittlich alle 27,9 Sekun- den geschnitten, heute alle zwei Sekunden. Von Jahrtausendbeginn bis 2009 hat sich unsere durchschnittliche Gehgeschwindigkeit in den Städten um zehn Prozent erhöht, seither sind wir wieder elf Jahre schneller geworden, und seit nicht einmal vierzehn Jahren tragen wir überhaupt die ganze Welt in unserer Hosentasche herum: Das iPhone hat alles, was man erleben kann, jederzeit überall verfügbar gemacht. Wer braucht da noch eine Standleitung ins Hirn?
Die gute Nachricht: Nichts von all dem, was uns Lust und Freude und Anerkennung bereitet, ist schlecht für uns.
Also, außer vielleicht das Heroin und die Marlboros. Die schlechte Nachricht: Alles davon ist gar nicht gut für uns. Das hat nichts mit den Transfetten in den Croissants, den Trojanern in den Pornos und den Influencern auf Instagram zu tun. Es hat mit dem Alles zu tun. Mit dem Zuviel an Stimulation unseres Glückszentrums, dem Zuschnell, dem Zuoft. Zu viel Glücksreiz macht uns nämlich, das weiß die Wissenschaft heute, unglücklich.
Sobald wir mehr Glückserreger produzieren, als die Erbse in unserem Kopf verarbeiten kann, ist sie überfordert. Die Erbse erschöpft sich, verbraucht sich, verkümmert, brennt aus. Unser Glückszentrum verlernt, uns glücklich zu machen. Jahrelang merken wir davon gar nichts, weil wir gegensteuern, indem wir instinktiv immer öfter immer stärkere Reize setzen. Aber irgendwann sitzen wir da und sind einfach nur mehr traurig, lustlos, fühlen uns leer, innerlich irgendwie unruhig, rastlos, vielleicht tut der Kopf weh oder der Rücken, ohne dass der Arzt im Kopf oder im Rücken was fände, oder wir können nicht mehr schlafen, das Leben macht insgesamt irgendwie gar keine so rechte Freude mehr, und wir wissen nicht, warum.
Es kann gut sein, dass das alles einfach an der Kapitulation einer Erbse liegt. Es gibt ein sehr gescheites Buch zu diesem Thema, es heißt „Im Teufelskreis der Lust“ und stammt vom deutschen Arzt Ingo Schymanski. Er erklärt sehr einfach die Biochemie unseres Glücks, wie das mit dem Dopamin in unserem Gehirn funktioniert und welche Rolle GABA spielt – Gamma-Aminobuttersäure –, ein anderer Botenstoff, der den Kreislauf aus Lust und Befriedigung, aus Anstrengung und Belohnung, aus Motivation und Leistung abrundet und uns nach all der Aufregung satt, zufrieden, ruhig und müde werden lässt.
Schymanski erklärt, wie sehr wir durchs moderne Leben unsere Dopamin- und GABA-Speicher systematisch erschöpfen und unsere Glücksrezeptoren ausbrennen; wieso uns diese Überforderung dazu bringt, von uns selbst und der Welt immer stärkere Impulse zu fordern – wir wollen mehr, wir wollen größer, wir wollen bunter, süßer, fetter, lauter; wieso es uns nicht mehr reicht, im Kino einfach nur einen Film anzusehen, sondern wir einen Liter Cola und einen Container Popcorn dazu brauchen.
Er erklärt, wieso wir gar keine Chance mehr haben, uns auf eine Sache zu konzentrieren, wenn wir nicht genug GABA im System haben. Er erklärt, wieso es klug ist, vor jede Belohnung eine Herausforderung zu stellen und nach jeder Belohnung eine Pause.
Schymanski hat auch ein ziemlich einfaches Rezept bei der Hand, wie wir wieder lernen, glücklicher zu sein.
(„Einfach“ übrigens nicht im Sinn von „leicht“, sondern in Sinn von „unkompliziert“, dazu gleich mehr.) Schymanski empfiehlt vor allem, dass wir uns an den Weisheiten des Fernen Ostens bedienen – dass wir unserem westlichen „Immer mehr“ ein östliches „Immer weniger“ entgegensetzen. Schymanski schwärmt von der heilenden Kraft des bewussten Verzichts, ganz konkret rät er zu Meditation, aber nicht zu unserer Täglich-fünf-Minuten-App- Morgenroutinemeditation mit Handy- Timer-Countdown, sondern dazu, der Meditation Ruhe zu geben, dem Stillsitzen so viel Zeit zu lassen, wie es möchte, und vielleicht sogar ein bisschen mehr. Und vor allem regt er an, die Meditation nicht als Werkzeug zu sehen, sondern als Selbstzweck. Dann kann das Glück in uns wieder lernen zu entstehen, sogar ganz von selbst, wenn wir ihm dafür Zeit geben.
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Er rät zum bewussten Verzicht im Alltag, zum Neinsagen, Nein zum überfordernden Chef genauso wie Nein zum herkömmlichen Frühstück: den zusätzlichen Job nicht annehmen, Überstunden, Zucker und Kaffee weglassen. Einfach einmal zum Frühstück nur Wasser trinken und herausfinden, wie das Wasser schmeckt. Schymanski rät zu Pausen, die wirkliche Pausen sind – also zu Zeiten, in denen wir nichts tun, ganz und gar nichts. Das Beste, meint er, wäre überhaupt, sich ausgiebig zu langweilen, und es wäre fantastisch, wenn Kinder wieder lernen müssten – dürften! –, mit Langeweile umzugehen.
Langeweile ist, wie die Akkus unserer Lebensfreuderezeptoren aufzuladen.
Auch für den Star-Autor Sebastian Fitzek spielt die Langeweile eine wichtige Rolle.
Ich wollte das ausprobieren. Ich habe mir vorgenommen, mich einen Nachmittag lang zu langweilen.
Kein Handy, kein Fernsehen, kein Internet, keine Chips knabbern, kein Fermentiergemüse schnippeln, nicht laufen gehen, nicht einmal ein Buch lesen oder den Keller zusammenräumen, also nicht einmal nichts tun, nicht einmal über den nächsten Arbeitstag nachdenken, alte E-Mails sortieren oder eine To-do- Liste schreiben. Gar nichts. Einfach nur dasitzen, im Wohnzimmer, und in die Stille des Wohnzimmers hineinhören. Wie meditieren, nur ohne Meditations-App, ohne Meditationsmusik, ohne Meditationsmatte und ohne Meditationsschnickschnack. Pure Langeweile.
Es war fürchterlich. Aber ich war tapfer. Ich hab gefühlte dreißig Minuten durchgehalten, eher vierzig. Und vierzig gefühlte Minuten sind wirklich lang, wenn du nichts anderes machst, als deinem Wohnzimmer beim Wohnzimmersein zuzuhören, und wenn in jeder der gefühlten 2.400 Sekunden die Welt stehen bleibt. Nach diesen inneren vierzig Minuten war ich von der Langeweile überfordert, zu unruhig, zu fahrig, zu missmutig. Und irgendein Unsympathler in meinem Gehirn hat nicht mehr aufgehört, mich zu fragen, ob ich komplett durchgeknallt bin, einen ganzen Nachmittag sinnlos zu verplempern, wo jetzt endlich Zeit wäre, das Gemüse fürs Fermentieren zusammenzuschneiden oder den Keller aufzuräumen, außerdem scheint die Sonne, raus mit dir!
Die Uhr sagt, es waren zehn Minuten Langeweile vergangen, als ich die Laufschuhe angezogen hab. Ich war dann laufen, mit einem einigermaßen komischen Gefühl des Scheiterns, aber immerhin langsamer als sonst, ohne Pulsuhr, ohne Handy, ohne Podcast.
Schymanski zitiert in seinem Buch Hermann Hesses Gedicht „Glück“. Das geht so:
Solang du nach dem Glücke jagst, Bist du nicht reif zum Glücklichsein, Und wäre alles Liebste dein.
Solang du um Verlornes klagst
Und Ziele hast und rastlos bist, Weißt du noch nicht, was Friede ist.
Erst wenn du jedem Wunsch entsagst, Nicht Ziel mehr noch Begehren kennst, Das Glück nicht mehr mit Namen nennst,
Dann reicht dir des Geschehens Flut Nicht mehr ans Herz – und deine Seele ruht.
Vielleicht klingt das jetzt alles ein bisschen eso: nichts tun, nichts lernen, nichts planen, nichts leisten, nichts erleben, um das Glück wachsen zu lassen. Vielleicht haben Schymanski und Hesse aber einfach recht. Und vielleicht ist es ja wirklich ein Schlüssel zum Lebensglück, das Handy und den Fernseher einmal abzudrehen und dem Wohnzimmer beim Wohnzimmersein zuzuhören und sich der Langeweile auszusetzen.
Man kann es ja ausprobieren. Am Sonntag darauf hab ich 25 Minuten Langeweile geschafft, und nachher war ich nicht laufen, sondern spazieren, zwei Stunden, ganz langsam, ohne Handy, allein. Es hat sich ein bisschen nach Abenteuer angefühlt.
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Wenn die Welt sich besonders schnell zu drehen scheint, dann ist es Zeit für eine Pause. Warum du gerade dann raus in die Natur sollst, weiß Dr. Günther Beck. Weiterlesen...
Langeweile: Von Dopamin und GABA
Die Natur ist wahnsinnig klug. Sie möchte uns Menschen dazu bringen, am Leben zu bleiben und die Art zu erhalten. Daher belohnt sie uns mit dem Transmitter Dopamin, sobald wir zum Beispiel etwas für den Kalorienhaushalt tun oder für die Fortpflanzung. Dopamin ist ein rauschhaft wirkendes Glückshormon, und damit wir nicht vor lauter Rausch und Glück durchdrehen, hat die Natur GABA erfunden.
GABA ist auch ein Botenstoff. Er wird aus Dopamin gebildet, macht uns ruhig und kontemplativ. Die Natur hat also Spannung und Entspannung, Aufregung und Erholung aneinandergekettet. Das alles funktioniert so lange wunderbar, solange wir unsere körpereigene Dopaminproduktion nicht überfordern.