In Partnerschaft mit

„Sind Sie niedergeschlagen? Antriebslos? Haben Sie übermäßig Appetit auf Kohlenhydrate? Wollen Sie nur daheimbleiben? Dann bleiben Sie im Tun! Gerade jetzt müssen Sie aktiv sein, sich Zeit nur für sich selbst nehmen, um den Tank in kleinen Dosen zu füllen – und nicht faul am Sofa durchhängen.“

Ich hänge gerade faul am Sofa durch, als ich diesen Artikel über den Herbstblues zu lesen bekomme. „Sehr witzig“, denke ich. „Und wer macht dann alles andere?“ Andererseits: Es stimmte schon, ich war müde. Trotz täglicher Vitamin-D-Einnahme. Und dabei hatte die richtig dunkle Jahreszeit doch noch gar nicht begonnen!

Die Monate des Homeschoolings für die Kinder (als Selbständige, die eigentlich daheim zu arbeiten hat) haben ihren Tribut gefordert. Ich freue mich den ganzen Tag aufs Bett, und dann bleibe ich doch immer bis nach Mitternacht auf, versinke in den Netflix-Welten und bin süchtig nach politischen Neuigkeiten auf Twitter. Nicht erholsam. Ich beschließe, dem Ganzen einen Versuch zu gönnen, um nicht komplett auszubrennen. Ich nehme mir vor, mir zumindest zweimal pro Woche, wenn geht, sogar dreimal zwei Stunden Zeit für mich zu nehmen – nur für mich.

Anzeige
Anzeige

Die sogenannte Me-Time. In der ich etwas für meine geistige oder körperliche Pflege tue.

Me-Time: Woche 1 – Leerlauf

Es ist September, die Kinder sind einigermaßen eingeschult, die berufliche Auftragssituation ist sortiert, sodass ich einen Überblick habe, was ich mir an Zeitkontingenten nehmen kann. Montag um 14 Uhr beginnt die Me-Time, ich mache ein Nickerchen, und dann ist sie schon wieder vorbei. Sehr unbefriedigend, so war’s wohl nicht gemeint.

Dienstag dann ein neuer Versuch, ich will mit YouTube-Clips, die man mir empfohlen hat, ein wenig Yoga machen. Am Anfang geht’s gar nicht so schlecht, der Hund schaut herab, und dann schaut er wieder auf, und ich mache den Baum und die Schildkröte. Nach 35 Minuten gibt’s plötzlich Kindergetrampel.

Anzeige
Anzeige

Sie hatten früher Schule aus, und ich springe entnervt auf, um sie zu versorgen und mir ihren Tag anzuhören. Beim Umrühren der Suppe denke ich darüber nach, wie fremdbestimmt mein Leben eigentlich ist. Diese Strukturen zu durchbrechen, wird wohl nicht so einfach werden. Ohne Hilfe scheint die „Operation Zeit für mich“ zum Scheitern verurteilt …

In der Me-Time gehe es um das Hier und Jetzt.

Barbara Veigl-Trouvain, Psychotherapeutin

Ich konsultiere Frau Barbara Veigl-Trouvain, Psychotherapeutin und Coach bei Concentive. Ich brauche Selbstbewusstsein dahingehend, dass ich fähig bin, mich vom Alltag kurz zu lösen. Und einfach nett zu mir zu sein. Ich bin eine Kümmermaschine geworden, für die anderen. Die Woche ist futsch. Barbara Veigl-Trouvain hat viel Verständnis für mein Dilemma.

So geht es vielen, sagt sie. Sich selbst zu umsorgen erfordert einiges an Vorbereitung. Den Kindern könne man sehr wohl beibringen, dass sie die Auszeit von anderen respektieren. Außer sie oder das Haus brennen.

Und eine Liste sei zu machen – mit Ideen, was einem wohl so richtig guttun könnte. Und egal was ich mache, es müsse nichts dienen, es brauche keinen Zweck. In der Me-Time gehe es um das Hier und Jetzt. Wenn man das trainiert, sagt die Expertin, bekommt man einen lebendigen Kontakt zu sich selbst. Schon klar, da tummeln sich dann nicht nur die freudigen Gefühle, sondern auch Wut, Aggression, Traurigkeit, Hilflosigkeit und so weiter. Aber es sei auch wichtig, diese wahrzunehmen und zu spüren ohne Bewertung …

Und: Was immer ich mir vornähme, ich solle mir abgewöhnen, zu viel im Internet zu hängen. Das sei fürs Gehirn einfach sehr anstrengend

Me-Time: Woche 2 – Annäherung

Mit jeder Menge neuem Wissen vollgetankt, beginne ich die folgende Woche voller Tatendrang. Zunächst beschenke ich mich mit einer Vorbereitung. Ich mache mir für die nächsten drei Wochen fixe Zeiten aus, in denen die Kinder woanders sind.

Ich teile mir genau ein, wann welche Arbeit für welche Kunden zu machen ist. Ich absolviere den Schlechtes-Gewissen-Marathon und mache Termine für alles, was eigentlich ansteht, also Kinderorthopädin, Zahnarzt, Mammografietermin, Hautärztin zur Muttermalkontrolle.

Ich merke, wie mir nach jedem Telefonat schon ein kleiner Kiesel vom Herzen fällt. Jetzt muss ich es nur noch schaffen, die Termine auch einzuhalten. Ich verspreche mir, mich nicht zu enttäuschen.

Heidi List, Illustration, Yogamatte, Laptop
Heidi List nimmt sich Zeit für Yoga.

Gergor Kuntscher | Franziska Zobel

Und ich mache eine Liste, was es denn für mich wohl bedeuten könnte, eine echte Zeit für mich zu gestalten.

  • Herbstwald fällt mir ein, überhaupt, man liest so viel übers Waldbaden, der Wald kräftigt die Seele.

  • Ein Bad nehmen, so lange, wie ich will.

  • Lesen in der Hängematte.

  • Am Boden liegen auf der Shaktimatte.

  • Die alte Gitarre hervorkramen. Irgendwo muss es noch herumliegen, das verstaubte Ding.

  • Yoga machen.

  • Was Sinnloses schreiben, ohne Auftrag, ohne Idee.

Es ist Dienstag, späterer Nachmittag, alles ist erledigt. Somit kann ich sorglos losstapfen Richtung Wald. Nach einer Viertelstunde habe ich all die Mitspaziergänger, kleinen Kinder und großen Hunde abgehängt und bin nur noch von Bäumen umgeben. Ich gehe einfach herum, ohne Ziel, auch abseits der Wege. Es ist Indian Summer, und obwohl das Wetter nicht strahlend ist, leuchten die Blätter in allen Farben.

Ich habe die Worte von Barbara Veigl-Trouvain im Ohr: Ich solle jedem Blatt und jedem Busch Aufmerksamkeit schenken. Es riecht nach Moos. Ob dieser Wald genauso riecht wie der Wald damals in meiner Kindheit in Tirol? Mir kommt der Gedanke, dass vielleicht der heutige Wald überhaupt anders riecht als früher, weil sich das Klima geändert hat. Das wäre ja furchtbar.

Die nächsten 20 Minuten verbringe ich mit der Sorge über das Artensterben und die Zukunft unseres Planeten und darüber, was meine Kinder wohl für eine Welt vorfinden werden, wenn sie groß sind … Zwar einigermaßen durchblutet, aber dennoch betrübt komme ich wieder nach Hause. Irgendwas läuft hier falsch.

Das eigene Urteil sollte man manchmal einfach nicht so ernst nehmen.

Barbara Veigl-Trouvain, Psychotherapeutin

Ich rufe Barbara Veigl-Trouvain an. Ich erkundige mich bei ihr, ob ich jemals Energie aus meinen Me-Times werde ziehen können. Sie ist geduldig mit mir. Ich solle mir in der Me-Time solche existenziellen Gedanken verbieten. Ich dürfe also nicht grübeln.

  • Es gebe eine Technik, die in der Meditation angewandt wird: Jedes Mal, wenn ein Gedanke oder ein Gefühl hochkommt, muss man das betrachten wie eine Wolke und wegschicken. Der Gedanke, das Gefühl dürfen ein anderes Mal wieder betrachtet werden. Na gut, ich will das probieren.

Zwei Tage später plane ich das Lesen eines Buches in der Hängematte. Ich nehme „Der Meister und Margarita“ von Michail Bulgakow. Das habe ich vor vielen Jahren gelesen und fand es toll. Somit kann ich sicher sein, dass ich mich entspannen würde.

Doch während der ersten Sätze schon blitzen Aufträge an mich selber herein: „Aber dann muss noch die Wäsche aufgehängt werden.“ Oder: „Heute noch die Buchhaltung machen.“ Mir fällt auf, dass diese inneren Zurufe einen ziemlich rüden Ton haben. Das müsste ich vielleicht ändern. So soll niemand mit mir reden dürfen – auch ich nicht.

Und: Ich wollte ja lesen, ich kann mich ja später mit mir unterhalten. Also konzentriere ich mich wieder. Siehe da, auf einmal ist es ein Leichtes, die Gedanken, die hie und da die Lektüre zu stören gedenken, wieder wegzuschicken. Irgendwann bin ich komplett in die Welt des – immer noch großartigen – Buches abgetaucht. Ich blicke erst wieder auf, als der Wecker nach zwei Stunden klingelt. Ich bin stolz. Diesmal habe ich echt was geschafft. Erfrischt hüpfe ich aus der Hängematte. Dann hänge ich die Wäsche auf und setze mich widerwillig an die Buchhaltung.

Habe keine Lust. Nach zehn Minuten mache ich mit mir selber einen Termin, wann ich nun wirklich die Buchhaltung machen sollte, ich bin ja jetzt zuverlässig! Na okay, sagt mein inneres Ich, nicht mehr ganz so bissig.

Am Freitag der zweiten Woche suche ich die Gitarre. Irgendwo in einem der Kinderzimmer liegt sie, mit nur fünf Saiten. Ich gehe zum Musikgeschäft, um festzustellen, dass da jetzt ein Bäcker drin ist, und zwar schon seit Jahren. Also schiebe ich das Vorhaben zur Seite und kaufe mir dafür ein elegantes Notizbuch. Dann treffe ich eine Freundin und verquatsche den Rest der Zeit. Tut aber gut, ich treffe ja kaum jemanden.

Woche 3 – Training

Es ist der Montag der dritten Woche. Ich gehe mit meinem neuen Notizbuch in den nächstgelegenen Park. Dort steht eine Bank vor einem Teich, mit Enten und Schwänen. Und sogar einem Reiher. Der sitzt nur da und schaut unentwegt auf einen Punkt. Vielleicht meditiert er?

Ich beginne zu schreiben. Zunächst nur Wörter wie „Why, Why – Annie Lennox, David Bowie, Prince, Schloss, Schlosser, Schlüssel nachmachen, Affe“. Ich bin entsetzt, was da für ein Blödsinn aus mir rausfließt.

Ich rufe Frau Barbara Veigl-Trouvain an und hoffe, dass sie erreichbar ist. Ich habe Glück. Sie hört sich die Misere an und fragt, wer genau denn beurteilen würde, was ich schreibe. Ich könne das Büchlein ja auch vernichten. Das eigene Urteil sollte man manchmal einfach nicht so ernst nehmen. Man könne freundlich zu den eigenen Ambivalenzen stehen.

Ich gehe nach Hause und denke noch viel an den Reiher. Gleich am nächsten Tag beginne ich noch einmal zu schreiben, wieder am Teich im Park, der Reiher sitzt am gleichen Platz. Diesmal formen sich längere Sätze, die zwar aneinandergereiht keinen Sinn ergeben, aber eigentlich recht schön sind.

Wobei ich mich zurückhalten muss, mich darüber lustig zu machen, was ich anscheinend für eine Kitschschwester bin. Beschließe das sichere Verbrennen des Notizbüchleins, sobald es voll ist. Auf keinen Fall sollen es meine Nachkommen finden und mich posthum entmündigen.

Den Rest der Woche geht sich keine Me-Time aus, zu viel habe ich zu arbeiten, und ich will mich nicht enttäuschen in Sachen Buchhaltung. Ich bringe das sogar einigermaßen ohne den üblichen Hass fertig. Ich fühle mich äußerst erwachsen.

Woche 4 – Perfektion (naja, halbwegs)

Es ist Dienstag, und ich will es noch einmal mit der Gitarre probieren. Ich finde ein anderes Musikgeschäft, und der Verkäufer ist so freundlich, mir alle Saiten neu aufzuziehen und zu stimmen. Er spielt ein paar grandiose Riffs, und ich freue mich schon sehr auf meine Me-Time mit der Gitarre, denn immerhin habe ich vor langer Zeit klassische Gitarre gelernt, zwei Jahre lang.

Heidi List, Illustration, Gitarre
Auch das Gitarrespielen gehört für Heidi List zur Me-Time.

Gregor Kuntscher | Franziska Zobel

Ich nehme an, der Mann aus dem Musikgeschäft hat das Ding verhext, denn das, was ich an Tönen produziere, ist schmerzhaft. Trotzdem, ich beginne alte Lieder zu trällern und mich dabei zu begleiten. Meine Kinder kommen ins Wohnzimmer, entschuldigen sich brav für die Störung, aber sie wollten nur in aller Form ihre Scham über mein Gegröle ausdrücken. Wir müssen sehr lachen. Es wird ein sehr lustiger Nachmittag, seit langem einer in Leichtigkeit.

Am Freitag probiere ich die Shaktimatte aus, die seit Monaten unter meiner Couch herumliegt. Sie soll ja den ganzen Körper aktivieren dank der vielen Druckpunkte, und eine Freundin ist süchtig danach. Ich lege das Ding auf den Boden, vor die Heizung, damit ich es auch schön warm habe. Lasse angenehme Musik spielen. Und dann lege ich mich drauf. Nach zwei Sekunden bin ich wieder herunten, das tut ja wirklich weh!

Ich frage bei meiner süchtigen Freundin nach, ob sie noch bei Trost ist. Sie ist ungerührt und meint, ich solle das auszuhalten lernen, es wird mit der Zeit immer weniger schmerzhaft. Wahrscheinlich hat sie bereits Hornhaut am Rücken. Ich bin skeptisch, probiere es noch einmal. Langsam merke ich, dass meine Schmerzgrenze sich erhöht, es ist nicht mehr ganz so schlimm. Aber länger als 15 Minuten halte ich’s nicht aus. Ich fühle mich sehr durchblutet.

Zur Belohnung lasse ich mir ein Bad ein, schütte ordentlich Badeschaum hinein, und dann liege ich einfach drin. Ich sehe meinen Fingern zu, wie sie langsam schrumpelig werden, und gieße zweimal warmes Wasser nach. Es ist zum Heulen schön. Und weil es recht spät ist, gehe ich direkt ins Bett und schlafe durch, bis zum nächsten Morgen. Das ist auch nicht selbstverständlich. Ich freue mich.

Meine Erkenntnis des Me-Time-Selbstversuchs

Am Wochenende stelle ich fest, dass die vorgenommene Zeit für die geplanten Me-Times vorbei ist. Ich telefoniere ein letztes Mal mit Barbara Veigl-Trouvain und bespreche mit ihr die letzten vier Wochen. Ich bin nicht sicher, ob ich das mit dem Schreiben fortführen will, zu sehr sehne ich mich danach, diesen Unsinn zu verbrennen.

Ansonsten beschließe ich, einfach so weiterzumachen. Ich merke, ich habe an Lebensqualität gewonnen. Barbara Veigl-Trouvain freut sich für mich. Und sie gibt mir zum Abschluss noch den Rat, meine sozialen Kontakte zu intensivieren. Es sei genauso wichtig, meine Freundinnen zu treffen. Ansonsten solle ich in der Straßenbahn einfach aus dem Fenster schauen, kein Scrollen am Handy.

An diesem letzten Abend mit Coachingbegleitung bin ich dann schlimm und feiere das mit dem Ansehen einer kompletten Staffel „Fleabag“. Denn sich am Genie von anderen zu erfreuen, macht irgendwie auch froh. Und ich freue mich auf Montag, bin schon gespannt, was ich dann vorhaben werde, nur für mich.

Heidi List, 50, liebt Musik, Bücher und ihre Ruhe. Grad Letztgenannte hat sie als Selbständige und Alleinerzieherin mit zwei Kindern eher selten.