Die Morgenseiten-Methode – Mit Schreiben zu mehr Klarheit finden
Was passiert, wenn man jeden Morgen drei Seiten Text zu Papier bringt, drei Wochen lang? Katharina Lehner hats ausprobiert.
Die Zwanziger sind aufreibende Jahre. Es sind Entscheidungen zu treffen: Worauf soll ich mich beruflich jetzt wirklich konzentrieren? Passt dieser Mensch zu mir? Passt diese Beziehung in mein Leben? Soll ich lieber noch einmal ins Ausland gehen? Höchstwahrscheinlich geht es einem in den Dreißigern, den Vierzigern, den Fünfzigern, den Sechzigern und so weiter genauso, vielleicht ändern sich auch die Fragen nur minimal. Die Zwanziger sind nur das einzige erwachsene Jahrzehnt, das ich bereits vollständig hinter mir habe und in dem sich Richtungweisendes zugetragen hat. „Eigentlich will ich viel lieber schreiben!“, habe ich einer Freundin zu später Stunde in einem Lokal anvertraut.
Ungeplanterweise war ich nämlich in so etwas Ähnliches wie eine „Corporatekarriere“ gerutscht – mit halbwegs seriösem Dresscode, mehreren Meetings pro Tag, vielen organisatorischen und zuletzt auch personellen Aufgaben. Und ja, ich war stolz drauf, beruflich weitergekommen zu – aber in mir drinnen, da zwickte es. Die Freundin, eine Sängerin, die gerade an ihren ersten Songs schrieb, verstand sofort: „Kennst du das Buch von Julia Cameron? ‚Der Weg des Künstlers‘?“
Wenige Worte, eine lebensverändernde Buchempfehlung. Gleich auf den ersten Seiten kommt man da mit einer Technik in Kontakt, die sich „Morgenseiten“ nennt. Sie geht ganz einfach: In der Früh aufstehen, sich hinsetzen, drei Seiten mit der Hand vollschreiben. Jeden Tag, ohne Ausnahme. Wort für Wort, ohne Abkürzungen.
Was man hinschreibt? Egal. Man notiert, was einem in den Sinn kommt – und wenn es nur so banal ist wie „Mir fällt nichts ein“. Ich fing an zu schreiben, jeden Morgen, wochenlang. Und immer wieder stand dort auf den Seiten: „So viele Meetings sind anstrengend“, „Bin ich am richtigen Ort?“, „Ich will lieber schreiben!“
Und auf ein Versprechen von Julia Cameron – Autorin, Künstlern, Kursleiterin – kann man sich verlassen: „Es ist sehr schwierig, sich Morgen für Morgen und Monat für Monat über eine bestimmte Situation zu beschweren, ohne dass der Wunsch entsteht, konstruktiv handelnd etwas dagegen zu tun“, so schreibt sie in ihrem Buch. Schlussendlich habe ich also gekündigt und bin über ein paar weitere Umwege nun tatsächlich beim Schreiben gelandet.
Doch ist das Morgenseitenschreiben nur etwas für Unzufriedene oder für Leute, die einen kreativen Beruf anstreben? Julia Cameron schreibt: „Rechtsanwälte leisten jeden Eid, dass sie dadurch vor Gericht effektiver werden.“ Sie erzählt von den Erfahrungen, die sie über Jahrzehnte bei ihren Kursteilnehmerinnen und Kursteilnehmern aus ganz unterschiedlichen Branchen beobachten konnte. Nachdem meine eigene Schreiberfahrung nun schon Jahre her ist, habe ich mich gefragt: Nützen mir die drei täglichen Seiten auch, wenn ich eigentlich zufrieden bin? Ich habe es drei Wochen lang ausprobiert.
Tag 1
Jetzt stehe ich also wieder jeden Tag früher auf. Irgendwie würde ich ja schon lieber schlafen. Na gut, es nützt ja nichts. Ich beginne meine Schreibroutine mit einer Beschwerde über mangelnden Schlaf. Und obwohl ich weiß, dass ich beim letzten Mal ganz begeistert war vom Schreiben der Morgenseiten, habe ich jetzt eigentlich gar keine Lust darauf. Läuft gerade alles bei mir – vielleicht ist das ja reine Zeitverschwendung? Ich lese noch einmal im Buch nach: „Es ist ein gutes Zeichen, wenn Sie die Morgenseiten hassen.“
Es ist ein gutes Zeichen, wenn Sie die Morgenseiten hassen.
Tag 2
Auch der zweite Tag beginnt mit einer Beschwerde, besser gesagt: mit Beschwerden. Denn mir tut die Hand weh. Die Finger verkrampfen sich. Als jemand, der den Großteil seiner Worte in die Tastatur klopft oder auf dem Smartphonebildschirm tippt, frage ich mich: Wie hält man noch mal einen Kuli? Nach einer Seite sattle ich um auf die Füllfeder, die ganz unten in der Schublade liegt und in der sich tatsächlich Tinte befindet. Nur um den nächsten Rückschlag zu erleben: Die Feder lässt sich zwar geschmeidig führen, doch die Tinte drückt sich durch das Papier des billigen Blocks. Schreibt man außerdem auf einer linken Seite und kommt an den Rand, drückt die Spiralbindung in den Handballen. Sehr unbequem das alles. Mein fester Vorsatz: Heute nach der Arbeit kaufe ich mir einen guten Block.
Tag 3
Nächster Morgen: Ich war gestern zu faul, mir einen Block zu kaufen. Jetzt bereue ich es und schreibe wieder dasselbe nieder wie gestern: „Das Schreiben ist unbequem.“ Ich mache natürlich weiter, denn wie Julia Cameron sagt: Die Morgenseiten sind nicht verhandelbar. Und, siehe da, ungefähr in der Mitte stellt sich eine Erkenntnis ein: Meine Hand bringt Worte aufs Papier, mein Hirn ist aber schneller. Während ich einen Gedanken aufschreibe, bin ich im Kopf schon beim nächsten. Es fühlt sich an, als hätte ich eine neue Dimension entdeckt.
Tag 4
Ich schreibe noch immer auf dem Spiralblock, doch ich habe eine neue Methode entwickelt: Immer, wenn ich auf einer linken Seite bin, drehe ich den Block auf den Kopf, sodass die Spiralen links sind. Eine Sache haben die Morgenseiten also schon gebracht: Ich habe meine Problemlösungskompetenz erweitert.
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Tag 5
„Ich hatte die ganze Nacht Bauchweh und habe deshalb sehr schlecht geschlafen. Außerdem hasse ich diesen Block.“ Schreibtag Nummer fünf bringt sehr viele negative Gefühle mit sich. Ich erinnere mich wieder daran, wie viele weinerliche und wütende Dinge ich auch beim letzten Mal niedergeschrieben habe. Cameron meint dazu: „Angst um den Job, die Wäsche, die Beule am Auto, der seltsame Blick in den Augen unseres Freundes oder unserer Freundin – all diese Dinge wirbeln durch unser Unterbewusstsein und überlagern unseren Tag.“ Indem man sie aufschreibt, solle man auf die „andere Seite“ kommen. Auf die andere Seite der schlechten Launen, der Angst und der Negativität.
Ich formuliere also alles, was sich gerade in mir abspielt, und fülle drei Seiten damit. Es klingt vielleicht erfunden, aber zum Schluss ist es tatsächlich so: Der Schritt vom Schreibtisch in die Küche ist leichter als der vom Schlafzimmer zum Schreibtisch. Ich mache mir einen Kaffee und starte recht gut gelaunt in den Tag.
Während ich einen Gedanken aufschreibe, bin ich im Kopf schon beim nächsten. Es fühlt sich an, als hätte ich eine neue Dimension entdeckt.
Tag 6
Es ist mir peinlich, es zuzugeben, aber ich musste heute notieren, dass ich immer noch auf dem Spiralblock schreibe und dass ich es immer noch sehr ungemütlich finde. Meine Leidensfähigkeit ist offenbar sehr ausgeprägt.
Tag 7
„Ich glaube es selbst kaum, aber ich habe es geschafft, mir ein neues Notizbuch zu kaufen. Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich auf unliniertes und unkariertes Papier schreibe, mit einem Durchschlag.“ Ich werde langsam zur Papierexpertin. Und erneut zur Zeugin, dass dieses Morgenritual hält, was es verspricht. Es ist zwar nur ein kleiner Erfolg, aber es bestätigt: Man kann sich nicht täglich beschweren, ohne den Wunsch zu empfinden, das Problem zu lösen. Ich habe also meine Schreibsituation verbessert und frage mich nun, worüber ich die kommenden Tage raunzen werde.
Tag 8
Der Verstand schläft nicht, und er hat in der Nacht neue Probleme produziert, die morgens gleich ans Tageslicht treten. Während meiner letzten Morgenseitenphase vor ein paar Jahren habe ich mir selbst versprochen, dass ich kreative Projekte auch in meiner Freizeit umsetze. Um der Selbstbestimmung willen – keine Themenvorgaben, keine Briefings und niemand, dem etwas gefallen muss, außer mir selbst. Unter anderem habe ich deshalb einen Podcast gestartet. Doch die Freiheit bringt mit sich, dass man für alles allein verantwortlich ist.
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Ich beginne die Morgenseiten damit, mein Problem zu skizzieren: „Soll ich noch eine Interviewpartnerin für die nächste Folge suchen, oder reicht das, was ich schon habe?“ Zeitdruck gibt es obendrauf: Die Folge soll bald online gehen. Ich beginne, die unterschiedlichen Möglichkeiten aufzuschreiben, und bewerte, wie schnell ich diese oder jene Person erreichen kann, was sie inhaltlich beitragen könnte. Am Schluss habe ich einen Geistesblitz: Mir fällt jemand ein – es ist eine Person, die ich jeden Tag sehe. Das Problem, das sich über Nacht in meinem Kopf festgesetzt hat, ist tatsächlich gelöst. Innerhalb von drei vollgeschriebenen Seiten.
Tag 9
Heute habe ich die Zeit gestoppt: Ich brauche genau 19 Minuten für mein wortreiches Ritual. Es hat sich bewährt, dass ich vor dem Schreiben nur meine Zähne putze, keinen Kaffee aufbrühe und nicht dusche. Dem Hirn bleibt also keine Zeit, ins morgendliche Grübelkarussell einzusteigen – alles geht gleich aufs Papier.
Tag 10
Es ist Samstag, ich bin über das Wochenende bei den Schwiegereltern zu Besuch und gebe es zu: Ich habe heute einfach auf das Schreiben vergessen.
Tag 11
Sonntagmorgen, ich sitze im alten Kinderzimmer meines Freundes und schreibe in mein Notizbuch. Ich höre, wie die anderen unten in der Küche frühstücken und sich unterhalten. Am liebsten würde ich den Füller jetzt einfach weglegen. Mein Schriftbild mutiert von nicht ganz so schön zu unentzifferbar.
Ich fange Seite zwei an, und mir fällt ein, dass ich auch einfach den Raum beschreiben könnte, um schneller fertig zu werden: „Der Tisch ist aus dunkelbraunem Holz. Ich schaue aus einem großen Fenster. Draußen ist eine Wiese, weiter hinten Häuser, und ganz hinten sind die Berge.“ Das Fazit des Wochenendes ist: Ein Morgenritual gelingt besser, wenn man sich an einem gewohnten Ort befindet und der Tag – wie unter der Woche – nach einem klaren Schema verläuft.
Ich ärgere mich nicht mehr, sondern mache es einfach. Irgendwie ordnet das Schreiben meinen Tag.
Tag 12
Die heutige Erfahrung bestätigt meine gestrige Erkenntnis: Ich bin zu Hause, habe Zähne geputzt, sitze am Schreibtisch, und es fließt nur so aus den Fingern.
Tag 13
Heute Nacht hatte ich einen so aufreibenden Traum, dass ich ihn gleich in der Früh aufschreiben musste, um ihn zu verarbeiten. Ich frage mich, ob das mit den Morgenseiten zu tun hat, denn im Traum sind Themen vorgekommen, die mich auch während der täglichen Schreibroutine beschäftigt haben. Wirkt sich das morgendliche „Rauslassen“ auf mein Unterbewusstsein aus, und bringt das Unterbewusstsein meine Themen anschließend in den Traum? Und der Traum bringt die Themen wieder aufs Papier?
Tag 14
Julia Cameron hat die Praxis der Morgenseiten für sich entdeckt, als sie sich aufgrund beruflicher Rückschläge eine Auszeit genommen hatte. Sie erzählt davon, wie sie sich anfangs den Frust von der Seele geschrieben und dann unbewusst plötzlich angefangen hat, eine fiktive Geschichte zu schreiben. Da ich heute keine Lust habe, mich zu beschweren, habe ich das auch versucht: Herausgekommen ist eine Geschichte über einen Kaktus, der sich nicht unterkriegen lassen will, obwohl er nur einen Stachel hat. Vermutlich kein Bachmann-Preis-Anwärter, dieser Text.
Tag 15
Meine gestrige Bemerkung über den Kaktustext hat mich zum Nachdenken und Nachlesen gebracht. In „Der Weg des Künstlers“ ist oft die Rede davon, dem logischen Gehirn, dem inneren Zensor, nicht zu viel Beachtung zu schenken. Es ist die Stimme, die sagt: So eine banale Idee! Da hast du dir aber keine Mühe gegeben! Das ist nicht gut genug! Diese vermeintlich vernünftige Stimme hemmt jedoch alles Kreative. Sie sorgt dafür, dass wir uns nicht entwickeln, weil wir uns nicht trauen, etwas Neues zu probieren – aus der Angst heraus, es könnte schlecht sein. Ich möchte nun also sagen: Ich mag den kleinen aufmüpfigen, einstacheligen Kaktus.
Tag 16
Heute ist wieder so ein Tag, an dem ich keine Lust zum Schreiben habe. Ich setze den Stift oft ab und schaue aus dem Fenster. Doch – welch Überraschung – dadurch dauert diese Sache nur länger. Ich schreibe also auf: „Prokrastination ist keine gute Strategie“ und führe das Dilemma aus, bis drei Seiten voll sind.
Tag 17
Ich habe aus gestern gelernt und nehme mir vor, den Füller heute kein einziges Mal abzusetzen. Selbst wenn ich nicht weiß, was ich schreiben möchte, male ich einfach einen Anfangsbuchstaben aufs Papier und schaue, wohin der Satz mich führt. Ich nehme mir vor, den restlichen Tag genauso zu gestalten: alle Aufgaben, die anfallen, einfach sofort anzugehen, ohne mit mir selbst zu diskutieren, ob ich das jetzt machen möchte. Und es funktioniert: Ich bekomme erstaunlich viel erledigt.
Tag 18
„Heute muss ich: ein Geburtstagsgeschenk für Mama kaufen, den Arzttermin ausmachen, das Volksbegehren unterschreiben, meinen Freundinnen endlich auf WhatsApp antworten, Zahnpasta kaufen.“ Manchmal sind die Morgenseiten einfach eine lange To-do-Liste.
Tag 19
Alle Vorhaben von gestern sind erledigt. Ich schreibe auf, wie super ich mich selbst finde, weil ich das geschafft habe.
Tag 20
Früh aufzustehen und sich an den Schreibtisch zu setzen fühlt sich an Tag 20 schon normal an. Ich ärgere mich nicht mehr, sondern mache es einfach. Ich akzeptiere, dass meist nichts Weltbewegendes aus mir herausfließt. Doch irgendwie ordnet das Schreiben meinen Tag. „Der Prozess hat nichts Spektakuläres und ist leicht zu übersehen“, schreibt Julia Cameron dazu.
Tag 21
Drei Wochen habe ich nun täglich – okay, mit einer Ausnahme – Morgenseiten geschrieben. Und obwohl ich zu Beginn keine großen Unzufriedenheiten in meinem Leben hatte, hat der Prozess doch Erkenntnis gebracht und außerdem handfeste Ergebnisse aus kleinen Alltagsexperimenten: nicht aufschieben, nicht bewerten, einfach tun.
Julia Cameron und einige ihrer Kursteilnehmerinnen und Kursteilnehmer schreiben seit Jahren und Jahrzehnten ihre Morgenseiten und schwören darauf. Ob ich selbst morgen weitermachen werde, muss ich mir noch überlegen, aber dass ich an einem weiteren Punkt meines Lebens wieder eine Morgenseitenphase einlegen werde, steht fest.
Wie genau du das Experiment der Morgenseiten für dich selbst starten kannst. Kannst du hier nachlesen.
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