Angst vor Wasser und auf Weltreise – Wie ich lernte „Meer“ zu vertrauen
Waltraud Hable kommt auf ihren Reisen an die schönsten Strände der Welt. Doch seit Jahren wagt sie sich nicht ins Wasser. Zu tief. Zu viele Fische. Zu gefährlich.
Zweifel und Hoffnung: Soll ich Angst vor Wasser haben? Soll ich mich hineinwagen oder nicht? Was wartet da draußen auf mich – an Lebewesen und an eigenen Ängsten?
Es gibt Tage, die sind prägender, als sie vielleicht sein sollten. Bei mir war ein verregneter Samstag im Jahr 1986 so ein Tag. Ich war acht Jahre alt und mit meinem großen Bruder unbeaufsichtigt vor dem Fernseher geparkt. Was prinzipiell keine kluge Idee ist, schon gar nicht, wenn der Bruder die Hoheit über die Fernbedienung hat. Jedenfalls: An diesem Nachmittag sah ich spitze Zähne, spritzendes Wasser, Blutfontänen – minutenlang.
Was zur Folge hatte, dass ich mich fortan nicht mal mehr ins tiefe Becken des Freibads meiner Heimatgemeinde wagte. Aus Angst, dass der Weiße Hai dort nach mir schnappt. Steven Spielbergs gleichnamiger Thriller soll nicht nur auf mich diesen Effekt gehabt haben, habe ich mir inzwischen sagen lassen. Während sich andere aber vom Anblick der schlecht gemachten Raubfisch-Attrappe irgendwann wieder erholten, nahm bei mir die Scheu vor offenen Gewässern neurotische Ausmaße an.
Auf meinen Reisen durfte ich an den schönsten Stränden dieses Planeten mein Handtuch ausbreiten. Ich war auf Hawaii, in Australien, Thailand, Indonesien, Vietnam. Doch selten habe ich dort mehr als den kleinen Zeh ins Wasser gestreckt. Auch eine selbst verordnete Konfrontationstherapie – in Südafrika buchte ich beherzt einen Hai-Tauch-Trip– brachte wenig.
Das Exemplar des Weißen Hais, das um meinen Unterwasserkäfig kreiste, war zwar recht freundlich und sein stromlinienförmiger Körper wunderschön anzusehen, aber die Tatsache, dass Tiere mit derart scharfen Beißern überhaupt im Wasser herumzischen, bestätigte mich nur darin: „Als Mensch bleibt man besser da, wo man hingehört – nämlich an Land.“ Dass ich obendrein schon beim kleinsten Wellenschaukeln seekrank werde, wertete ich als zusätzliches Zeichen.
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Trotzkopf auf Tauchgang
Und trotzdem... finde ich mich nun in einem Boot vor Mexikos Karibikküste wieder, ausgerüstet mit Schnorchel, Taucherbrille und einer Überdosis Ingwerkapseln gegen Meeres-Unpässlichkeit. Während der Skipper den Anker auswirft, sehe ich Pelikane, die sich für ein Fischfrühstück kopfüber in die Fluten stürzen. „Lebt hier irgendwas, das mittelalte österreichische Damen wie mich auf seinen Speiseplan setzen könnte?“, frage ich Freediverin Marianna, die mich begleitet und das komplette Gegenteil von mir ist.
Marianna hat keine Angst vor Wasser in ihrem Element. „Es gibt Bullenhaie in der Gegend“, sagt sie. „Aber in dieser Ecke wurden sie meines Wissens noch nicht gesichtet.“ Ah ja. Und ehe ich mich’s versehe, ist Marianna bereits ins Meer gesprungen – während ich mich zögerlich von der Stufenleiter des Boots ins türkisblaue Nichts gleiten lasse, penibel darauf bedacht, meine Beine nah an meinen Körper zu ziehen und erst mal nur an der Oberfläche zu treiben, nicht dass meine Flossen noch etwas stören, das zwicken, beißen oder sonst eine Abwehrreaktion zeigen könnte.
Vom Meeresgrund aus betrachtet muss ich wie eine lethargische Robbe in einem viel zu knappen roten Bikini wirken.
Vom Meeresgrund aus betrachtet muss ich wie eine lethargische Robbe in einem viel zu knappen roten Bikini wirken. Und während ich mich zu orientieren versuche – „Wo ist Mariannas Schnorchel?“ –, taucht sie plötzlich mit freudig blitzenden Augen neben mir auf. „Ha! Heute ist dein Glückstag! Da sind drei Stachelrochen! Direkt unter dir.“ Schluck. Ich wollte das so. Oder nicht?
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Angst vor Wasser: Meer von der Welt sehen
Warum ich freiwillig mit Stachelrochen auf Kuschelkurs gehe – nach all den Jahren der Verweigerung? Ich schätze, weil ich zu viel Zeit zum Nachdenken hatte. Infolge der Pandemie war ich in den zurückliegenden Monaten gezwungen, langsamer zu reisen. Bei meinem vorangegangenen Stopp in Griechenland – wo die Buchten glasklar und fast schon kitschig waren – begann es erstmals, in meinem Hirn zu rattern. Ich saß oft allein am Strand und konnte nicht umhin, beim Anblick des endlos glitzernden Wasserteppichs zu denken: „Ich habe so viel von dieser Welt gesehen, und trotzdem kenne ich sie kaum.“
Ja, ich weiß – Luxusprobleme. Aber wenn man sich vor Augen führt, dass 71 Prozent der Welt mit Wasser bedeckt sind und die Landflächen, auf denen wir wandeln, vergleichsweise gering sind, dann hat meine Überlegung durchaus ihre Berechtigung. Vom sogenannten Blauen Planeten – diesem gigantischen Abenteuerspielplatz – kenne ich nur die Grün-, Braun- und Grauflächen. Was ein paar Etagen tiefer passiert, ist mir jedoch schleierhaft. Gehört das Souterrain nicht auch zum großen Ganzen? Welche Regeln des Zusammenlebens gelten da unten? Wer tut sich mit wem zusammen? Wie viel Schönheit und vor allem Weisheit versäume ich, wenn ich das Meer weiter auslasse?
Ich fürchte, viel. Und wo ich schon dabei war, Hobbyphilosophin zu spielen, dachte ich auch gleich über unsere Beziehung zu Wasser ansich nach: Wellenrauschen reduziert nachweislich die Ausschüttung von Stresshormonen bei uns Menschen. Im Mutterleib sind wir quietschfidel im Fruchtwasser herumgeturnt. Obendrein besteht unser Körper zu fünfzig bis achtzig Prozent aus Wasser, je nach Alter und Knackigkeit. Und dennoch stellt sich bei vielen – meiner Wenigkeit eingeschlossen – Panik ein, sobald der Grund unter den Füßen nicht mehr spür- oder sichtbar ist...
Warum löst das Element, aus dem wir eigentlich kommen, oft so starke Urängste aus? Wieso sind wir die einzigen Säugetiere auf Erden, die erst lernen müssen zu schwimmen, während alle anderen instinktiv dazu fähig sind? Sogar Katzen und Fledermäuse können’s! Sie sind zwar nicht sonderlich begeistert, aber im Notfall schaffen sie’s, sich von A nach B zu hangeln.
Es ist niemals das, wovor man glaubt, Angst zu haben. Es ist immer etwas anderes.
Kurz: Durch meinen Kopf schwirrten viele Fragen. Und in mir formierte sich ein Gefühl, das stärker war als mein frühkindliches Haifischfernsehtrauma. Wenn ich schon tönte: „Ich sehe mir die Welt an“, dann sollte das konsequenterweise die ganze Welt einschließen. Ein Typ, den ich bei meinem aktuellen Stopp in Mexiko am Strand getroffen hatte, gab mir schließlich den letzten Schubs. Obwohl er mich kaum kannte, gab er mir zu meiner Wasserscheuheit Folgendes mit: „Es ist niemals das, wovor man glaubt, Angst zu haben. Es ist immer etwas anderes.“
Angst vor Wasser ist wie eine Lektion in Urvertrauen
Darum treibe ich jetzt also im Meer, mit drei Stachelrochen, die jeweils eine Spannweite von anderthalb Metern haben – kleiner hatte es das Universum offenbar nicht. „Hat diese Art von Rochen nicht Steve Irwin, den australischen Dokumentarfilmer, im Jahr 2006 mit einem Stich ins Herz umgebracht?“ Marianna rollt hinter ihrer Taucherbrille mit den Augen und sagt: „Die tun dir nix, außer du trittst auf sie drauf.“
Hat diese Art von Rochen nicht Steve Irwin, den australischen Dokumentarfilmer, im Jahr 2006 mit einem Stich ins Herz umgebracht?
Dann nötigt sie mich, unterzutauchen und genauer hinzusehen. Ein Mitglied des Trios schwebt elegant auf mich zu. Kleine, gelbe Augen fixieren mich – mein Fluchtinstinkt schlägt an, aber meine Füße treten ins Leere, und das Boot ist zu weit weg. Also bleibt mir nichts anderes übrig, als da zu bleiben, wo ich bin, und zu versuchen, nicht durch den Schnorchel zu hyperventilieren. Das Tier ist so nah, dass ich es berühren könnte, aber wegen der Irwin-Geschichte lasse ich das besser bleiben. Ich beginne Details wahrzunehmen. Die graue Haut. Den langen Schwanz, unter dem der Widerhakenstachel versteckt liegt.
Die weiße Unterseite mit den zwei kleinen Nasenlöchern und dem Mund, der den Raubfisch von unten wie ein freundliches Gespenst aussehen lässt. Auch ein Schwarm zebraartig gestreifter Fische nähert sich neugierig von links. Zu zwanzigst, dreißigst, vierzigst begutäugen mich die kleinen Schwimmer. „So ein Fischdasein scheint fad zu sein“, sagt jener Teil von mir, der beschlossen hat, den fremden Wesen nachvollziehbare Verhaltensmuster zuzugestehen. „Tut sich was Neues unter Wasser, spricht sich das offenbar schnell herum.“
Und schon kommt der nächste Schwarm daher, um mich zu inspizieren. Je länger mein Gesicht unter Wasser ist, desto mehr erkenne ich. Im sandigen Grund finden sich Spuren und Geschichten, die ich nicht lesen kann. Marianna lotst mich – unter Begleitschutz der neugierigen Stachelrochen – zu einem Korallenriff. Ich komme an Fächerkorallen in leuchtendem Lila und Senfgelb vorbei. Andere wiederum sehen wie versteinerte Gehirne aus. Dorie, das Paletten-Doktorfisch-Mädchen aus „Findet Nemo“, ist ebenfalls da, mit unzähligen Freunden im Schlepptau.
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Wie ein Entenjunges paddle ich hinter Marianna her – ganz außer Acht lassend, wie weit wir bereits draußen im offenen Meer sind. Schluss mit türkisblauem Postkartenidyll, rund um uns ist das Wasser dunkelblau-schwarz geworden, es geht meterweit in die Tiefe. Die Strömung hier ist kälter, Gänsehaut steigt auf. Ich fühle mich schutzlos. „Es ist immer etwas anderes“, hämmert es in meinem Kopf. Wieder dieser Satz. Und plötzlich kann ich die Angst benennen. Sie heißt Kontrollverlust.
Ich hasse Kontrollverlust. Und damit meine ich nicht nur, meine unmittelbare Umgebung nicht kontrollieren zu können. Es geht auch darum, mich selbst nicht unter Kontrolle zu haben. Unter Wasser sind viele Sinne, auf die ich an Land zu vertrauen gelernt habe, ausgeschaltet. Die Ohren hören nur gedämpft. Die Sehkraft ist minimiert. Der Geruchssinn weg. Die Schwerkraft abgeschafft. Einzig meine Geschmacksknospen können bitteres Salzwasser in meinem Mund ausmachen. Ich kann potenzielle Bedrohung weder hören noch riechen, noch in der Ferne orten. Ich bin nur auf meine Körperhülle reduziert – und auf meine innere Stimme.
Und ich beginne zu begreifen: Dann muss diese Stimme eben stark sein. Sie muss das abfedern, was ich nicht mehr körperlich abwehren kann. Sie muss vertrauen. Ich muss vertrauen – der Welt, dem Moment, dem Schicksal, dem Leben, was weiß ich. Alles andere endet ungesund. Offenbar ist ein Schwarm Französischer Grunzer (die handtellergroßen, hellgelben Tiere heißen wirklich so) ganz meiner Meinung. Zumindest tanzen mir die Fische die eben gelernte Lektion wie in einer Waldorfschule vor.
Ich beobachte, wie sie nach vorne schwimmen wollen. Doch die seitliche Strömung erlaubt ihnen diese Richtung nicht. Also verweilen sie dort, wo sie sind, sie lassen sich nach links und nach rechts schaukeln, sind im Fluss mit der natürlichen Bewegung des Wassers und nehmen die Situation an, wie sie ist. Darauf vertrauend, dass sich alles finden wird. Ein paar Gelbschwanz-Demoiselle-Fische – blitzblaue Kerlchen mit hellblau fluoreszierenden Punkten – wiederholen das Ganze noch einmal, zur Sicherheit.
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Eine Welt wie unsere
Andere Stelle im Meer. Verdammt weit draußen. Marianna ist nicht zu sehen, und die Strömung erscheint mir nicht geheuer. Ich beschließe, lieber umzukehren, doch in diesem Moment erblicke ich fünf Meter unter mir die Silhouette eines Mannes, der am Meeresgrund liegt. Vor der kleinen Isla Mujeres, der Fraueninsel, findet sich seit 2009 ein Unterwasser-Kunstmuseum mit hunderten Steinskulpturen.
Der Mann nennt sich „Gärtner der Hoffnung“, und irgendetwas an seinem Anblick fesselt mich. Auch wenn meine Ohren schmerzen, versuche ich, zu ihm hinabzutauchen. Hinter dem Korallenriff dann: eine Jungfrau mit hochgerissenen Armen, ihr Rücken ist mit Muscheln und Algen überwuchert. Ich glaube, für Schisser wie mich ist das genau das Richtige: Im Meer etwas zu finden, das „menschlich“ und „vertraut“ wirkt, macht die Angst vor Wasser im Moment der Angst zugänglicher.
Und man ist dadurch entspannt genug, das Meer als das zu sehen, was es ist: ein Lebensraum, in dem sich alles versammelt, was mich „oben“ auch umgibt – kleine und große Wesen, Eigenbrötler und Herdentiere, Schüchterne und Halbstarke, freundliche und nicht so freundliche Kreaturen. Anstelle von Bäumen wachsen Seetang und Korallen, die Luft ist Wasser, aber der Himmel ist uns allen gleich. Als ich schon glaube, mir wachsen Schwimmhäute, so verschrumpelt sind meine Fingerkuppen, lotst mich Marianna zum Boot zurück.
„Happy?“, fragt sie. Ich nicke mit geröteten Augen. „Wirst du jetzt öfter ins Meer gehen?“, will sie wissen. „Vielleicht“, sage ich zögerlich. Wer sich an dieser Stelle eine Persönlichkeitstransformation erwartet hat, den muss ich enttäuschen. Auch wenn ich verinnerlicht habe, dass nicht jeder Fisch mich als Futterquelle sehen wird – furchtlose Freediverin oder Wasserratte wird keine aus mir. Der Respekt vorm Meer bleibt. Und das ist auch in Ordnung so.
Ein bisschen Demut vor der Kraft der Gezeiten schadet nicht. Es zeigt einem den Platz, den man in der Welt hat. Aber was ich durchaus mitnehme, ist das Gefühl, dass es wichtig ist, sich auch einmal treiben zu lassen. Weil es einen mitunter weiter bringt, als selbst der beste Plan das kann.
Lesetipp: Waltraud Hables neues Buch „Für alles um die Welt: Per One-Way-Ticket in ein neues Leben“ erschienen am 13. April 2021 bei DuMont. Wir freuen uns mit ihr!