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Im mexikanischen Dschungel nimmt Reiseautorin Waltraud Hable an einer Kakao-Zeremonie teil. Klingt nach Kaffeekränzchen? Dachte sie zuerst auch.

Ich sitze mit verbundenen Augen in einem Tempel und taste nach dem Becher Kakao, der vor mir abgestellt wurde. Eben habe ich noch die Vögel zwitschern gehört. Jetzt erfüllt die Stimme einer Göttin den Raum. Ich weiß, Göttin klingt verdammt theatralisch. Aber ein anderer Vergleich fällt mir für den Gesang, der mein Trommelfell zum Schwingen bringt, gerade nicht ein.

Landkarte Mexiko

Bild: Luke Duggleby

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Die Stimme ist weich und stark, sehnsüchtig und kämpferisch, vor allem aber ist sie laut. Federn streifen meinen Nacken. Ich spüre den Luftzug von tanzenden Bewegungen im Raum. Plötzlich: Bumm. Der dumpfe Schlag einer Trommel. Es hört sich an, als würde jemand mit der Faust an eine Tür hämmern.

Bumm. Bumm. Bumm.

„Mach auf. Mach auf. Mach auf “, verlangt die Trommel – und sie meint keine reale Tür. Sondern die zu meinem Herzen. Bloß ... Wie bricht man diese Pforte auf?

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„El cacao“, Medizin des Herzens

„Willst du mitkommen zu einer Kakao-Zeremonie?“ Mit dieser Frage eines Bekannten hat alles begonnen. „Klar“, antwortete ich, ohne zu wissen, wofür ich gerade zugesagt hatte. Ich war neu auf der Halbinsel Yucatán. Alles, was keine typische Touristentour versprach, schien mir interessant. Und Kakao klang prinzipiell gut, Mexiko erzeugt ihn in fantastischer Qualität, immerhin haben schon die Olmeken und Maya die Kakaopflanze kultiviert.

Kurz bevor wir losfuhren, wollte ich das Ganze sicherheitshalber aber doch noch ein wenig hinterfragen. Zeremonie also... Welcher Hokuspokus erwartet mich da genau? Ein folkloristisches Kaf­feekränzchen? Und wem wird gehuldigt? Den Kakaosamen? Einem Schoko-­Gott?

Das warme Gefühl, das dir Schokolade gibt, ist nur ein Vorgeschmack dessen, was du in einer Kakao-Zeremonie erlebst.

Den entstandenen Diskurs fasse ich mal so zusammen: Eine Kakao­-Zeremonie, so wurde mir mitgeteilt, sei ein spirituel­les Ritual, das bei den indigenen Völkern Mittel­ und Südamerikas seinen Ur­sprung hat. „El cacao“ werde als kraftvolle Pflanzenmedizin gesehen. Die Mytholo­gie der Maya spricht von Kakaw, dem Getränk der Götter. Es öffne unsere Ge­fühlswelt, belebe den Geist und harmo­nisiere ihn. Lange durften nur Priester und Schamanen über den Kakaogenuss mit den Göttern in Verbindung treten.

Wobei der Zauber-­Kakao nicht mit dem süßen Pulver aus dem Supermarkt gleich­zusetzen sei. Die Rede sei vielmehr vom bitteren Naturstoff. Für diesen würden die Bohnen in der Sonne getrocknet, von Hand geschält und zu einer Paste vermahlen. Nichts werde hinzugefügt, nichts entfernt. „Man genießt quasi den reinsten Kakao der Welt, voll mit Theobromin und Phenyl­ethylamin.“ Ersteres ist eine stimmungs­aufhellende Substanz.

Zweiteres ein Bo­tenstoff, der auch ausgeschüttet wird, wenn man verliebt ist. „Das warme Ge­fühl, das dir Schokolade gibt, ist nur ein Vorgeschmack dessen, was du in einer Kakao­-Zeremonie erlebst“, wurde mir gesagt. „Also wird man high auf das Zeug?“, fragte ich. Ich will nichts, was mir die Sinne vernebelt. Das mag spießig klingen, aber unberauscht bin ich mir selbst am liebsten.

„Nein, man erlebt kei­nen Trip. Der Kakao sorgt bloß für ein extremes Wohlgefühl und hilft dir, bes­ser ins Fühlen zu kommen.“ Dann wurde mir noch aufgetragen: „Überleg dir vor­ab eine Intention. Wobei soll dir die Weisheit des Kakaos helfen?“

Kakaobohnen

Bild: Nicole Franco

Gute Frage. Worauf will ich fokus­sieren? Der Kakao hätte einiges zu tun bei mir. Ein wenig Erleuchtung in Sachen romantische Beziehungen wäre zum Bei­spiel nicht schlecht. Ich bin Dauersingle, und „Wie macht man für die Liebe auf, wenn man ihr nicht hundertprozentig traut?“ ist definitiv ein Thema. Und dann: Liebe im Allgemeinen. Ohne Gegen­leistung. Schwieriges Ding.

Als wir beim Portal Xibalba ankom­men – einem Tempel im mexikanischen Dschungel, eine halbe Stunde von der Touristenhochburg Playa del Carmen entfernt –, habe ich noch immer kein vernünftiges Mantra für die Zeremonie gefunden. Einer anderen Teilnehmerin scheint es ähnlich zu gehen. „Ich brauche was Tiefgründiges, etwas, was nicht zu oberflächlich und vor allem nicht zu ego­istisch ist“, sagt sie. „Die Eingebung wird euch schon kommen, keine Sorge. Ver­sucht beide, den Kopf auszuschalten. Wenn es so weit ist, werdet ihr fühlen, was ihr braucht“, sagt Michelle, die Zeremonienmeisterin, die im Tempel die letzten Vorbereitungen trifft und unser Gespräch mitgehört hat.

Kopf ausschal­ten also? Ist nicht meine Stärke.

Der Sinn und der Krimskrams

Ich studiere die Umgebung: Die verzier­ten Lehmwände. Die Fensteröffnungen, die die Form von Ohren und Augen haben. Den Schrein mit frischen Blumen, den Zeremonienmeisterin Michelle auf­gebaut hat. Er wirkt stellenweise wie ein Sammelsurium von Krimskrams – zwi­schen spielzeugartigen Figuren finden sich Steine, Federn, Kristalle, bemalte Tonschüsseln, eine Kakaofrucht. „Auch wenn es wie ein wildes Durcheinander aussehen mag, jedes Teil hier hat seinen Sinn“, sagt Michelle, als sie meinen Blick bemerkt.

„Die tierähnlichen Fantasie­figuren zum Beispiel. Man nennt sie in der mexikanischen Kultur Alebrijes. Sie beschützen unsere Träume.“ Ich erkenne getrockneten Salbei und Rosmarin. „Bei­de Pflanzen dienen zur energetischen Reinigung“, bekomme ich zu hören.

Der Kakao hätte einiges zu tun bei mir Wie macht man zum Beispiel fürdie Liebe auf, wenn man ihr nicht hundert­prozentig traut?

Die Steine? Die Schale mit Wasser? Die Kerze? Die Feder? „Wir bringen für die Zeremonie alle vier Elemente zusammen: Erde. Wasser. Feuer. Luft.“ Michelle stellt mir Yorisma und Tin vor. Yorisma ist Tänzerin. Sie hat ihr Gesicht mit weißen Linien und Punkten bemalt, ihr Körper steckt in einer weißen Kutte. Tin wiederum wird die Zeremonie musikalisch mit seiner Flöte und mit Trommeln begleiten. Ich kann meine Au­gen kaum von ihm abwenden.

Die Kakaco-Zeremonie beginnt

Bild: Nicole Franco

Er wirkt wie ein Maya­krieger aus alten Zeiten. Um seinen Hals hängt eine schwere mehrgliedrige Kette aus Jadeperlen. Die Handgelenke sind mit Jaguarfell um­wickelt. Seine Oberarme zieren Türkise und Federn. Wenn er geht, klingt das wie Regen. Die muschelförmigen Scha­len des Ayoyote-­Baums, die auf seinen Unterschenkelmanschetten angebracht sind, sorgen für diesen Effekt. „Alles, was Tin trägt, hat er selbst angefertigt, seine Instrumente sind handgeschnitzt“, sagt Michelle. Sie ist die Einzige in der Run­de, die fließend Englisch spricht.

„Wir nehmen unsere Traditionen und Bräuche sehr ernst, das Kostüm ist keine Show, es dient dazu, Mutter Erde für die Schätze, die sie uns täglich zur Verfügung stellt, zu danken und uns mit allen Elementen zu verbinden.“ Dann schnappt sie sich eine schwere Platte aus Vulkangestein – eine Matete, einen typisch mexikanischen Mahlstein – und sagt: „Komm. Es wird Zeit, die Medizin vorzubereiten.“

Mit braunem Gold gegen den grauen Alltag

Die Kakaopaste wird gewalzt

Bild: Nicole Franco

Mit Medizin meint Michelle el cacao, die Medizin des Herzens. Wir gehen nach draußen, wo bereits Kakaobohnen über einer kleinen Feuerstelle rösten. Mit einer Steinwalze verarbeitet Michelle die Bohnen zu einem pastenartigen Brei. Ich biete mich als Gehilfin an, gebe aber rasch auf. Mein Pastenergebnis wird nicht feinkörnig genug, außerdem fällt zu viel Kakao zu Boden. „Kakaw galt mitunter als wertvoller als Gold und wurde sogar als Handelswährung benutzt“, erzählt Michelle, die seit zehn Jahren Kakao-Zeremonien leitet.

Immer, wenn es um Herzensangelegenheiten geht – bei Hochzeiten, Taufen, Liebeskummer oder Todesfällen –, vertraut man auf die Hilfe der gelb-braunen Frucht. „Die Legende sagt: Kakao ist ein Gott. Vanille eine Prinzessin. Die beiden gehören zusammen“, erzählt Michelle, als sie die Paste mit etwas Vanille und Wasser in einen bauchigen Tontopf gibt und mit einem Holzstößel umrührt.

Kakao-Zeremonien bauen immer auf Dualitäten auf, also auf zwei Dingen, die einander ergänzen und ein harmonisches Ganzes ergeben.

„Kakao-Zeremonien bauen immer auf Dualitäten auf, also auf zwei Dingen, die einander ergänzen und ein harmonisches Ganzes ergeben. Der Tontopf etwa steht für den Unterleib der Frau, der Stößel für das Geschlechtsteil des Mannes. Indem ich mit dem Stößel im Topf umrühre, machen wir Liebe, wir machen Kakao. Und heute ist ein ausgezeichneter Tag dafür.“ – „Warum?“, will ich wissen. „Weil heute Halbmond ist“, antwortet Michelle.

„Wieder die Dualität, siehst du? Halb-halb. Generell hält man Kakao-Zeremonien bei Halb- oder Vollmond ab, da ist die Wirkung am besten.“ Ich habe tausend Fragen. Nicht nur in Mexiko, auch in Guatemala, Belize, Peru und anderen Teilen Zentral- und Südamerikas findet sich dieses Ritual. Und aus jeder Ecke hört man etwas anderes. Während in Mexiko el cacao ein Gott zu sein scheint, feiert man anderswo die Kakaobohne als Göttin. Manche sagen: Es ist vorab der Besuch eines Temazcal erforderlich, eines traditionellen meso-amerikanischen Dampfbads.

Andere wiederum verzichten darauf. Und dann: Tanzt man? Sitzt man still? Darf eine Kakao-Zeremonie wirklich nur ein Schamane leiten? Michelle lächelt: „Es gibt bei diesem Vorgang kein Richtig oder Falsch. Jede Generation und jede Region gibt das Ritual auf ihre Weise weiter. Was aber allen Zeremonien gemein ist, ist das Ziel: Der Kakao soll helfen, unsere Intuition und Lebenskraft zu stärken und einen Ausgleich zum kopflastigen Alltag zu schaffen.“

Tänzerin für die Kakao Zeremonie

Bild: Nicole Franco

Und mit diesen Worten beginnt sie schließlich auch die Zeremonie. Tänzerin Yorisma reinigt mit einer Räucherschale, die mit Copal-Duftharz gefüllt ist, jeden Teilnehmer von Kopf bis Fuß. Wir begrüßen alle Himmelsrichtungen. Bedanken uns bei Pachamama, Mutter Erde, für ihre Großzügigkeit. Michelle teilt Kakaopaste aus, die mit Honig vermischt wurde. Sie streicht den Brei auf meine linke Hand, ich soll sie zu einer Faust ballen. Eine menschliche Faust ist etwa so groß wie ein menschliches Herz. Symbole, überall versteckte Symbole.

„Nehmt eure Medizin langsam ein“, sagt Michelle. Dann reicht sie Tassen mit warmem Kakao herum. Der zeremonielle Trunk enthält weder Milch noch Zucker. Er besteht nur aus Kakao, Wasser und Vanille. Wir werden aufgefordert, uns mit Bändern die Augen zu verbinden: „Wenn ihr nichts seht, könnt ihr besser in euch hineinsehen.“ Ich taste mich blind zurück zu meiner Tasse. Der Kakao schmeckt bitter, aber nicht unangenehm, wie sehr, sehr dunkle Schokolade. Und auch wenn ich keine Liedzeile dechiffrieren kann, die Michelle mit ihrer Göttinnenstimme anstimmt – singt sie auf Spanisch? oder in der Maya-Sprache Mayathan? –, zumindest mein Körper scheint zu verstehen: Er reagiert mit wohliger Ganzkörper-Gänsehaut.

Bumm, bumm, bumm, fällt die Trommel in Michelles Gesang ein. „ Mach auf.“

Noch ein Schluck Kakao. Ich kann spüren, wie die warme Flüssigkeit durch meine Kehle in den Bauchraum fließt, und ignoriere die Trommel – beziehungsweise die Forderung, die sie an mich stellt. Ist mein Herz nicht bereits offen – allein durch die Tatsache, dass ich mich auf das hier eingelassen habe? Bumm. Bumm. Bumm.

Das Klopfen verliert seine Bedrohlichkeit und wird zu einem Herzschlagrhythmus. Bumm. Bumm. Bumm. Ich lege meinen Kopf in den Nacken und wiege mich im Takt der Musik. Aus dem Nichts greift jemand nach meiner linken Hand und reibt diese vorsichtig mit Öl ein, um sie dann sanft über meine Nase zu legen. Ich sauge den Duft von ätherischem Kakaoöl ein.

Minuten später wird dieselbe Hand vorsichtig über etwas Warmes gehalten – eine Kerze? – und dann behutsam dreimal an mein Herz gedrückt. „Spürt die Wärme in eurem Herzen, speichert sie, gebt sie weiter“, sagt Michelle, bevor sie ein neues Lied anstimmt. Immer wieder schnuppere ich an meiner Hand, ich schmecke den Kakao in meiner Tasse, ich lausche, fühle Berührungen. Und plötzlich... beginnt sich mein Innerstes unglaublich weich und warm anzufühlen. So, als würde mein Herz von innen strahlen oder es die ganze Welt in sich einladen, ungeachtet der Verletzungen, die es sich dabei zuziehen kann.

Mit einer Tasse Liebe

Als ich die Augenbinde abnehme, sind meine Augen feucht. Ich habe nicht einmal bemerkt, dass sich die Tränenschleusen angeworfen haben. „Singt mir nach“, sagt Michelle. „Tierra es mi cuerpo... agua es mi sangre... Die Erde ist mein Körper. Das Wasser ist mein Blut. Der Wind ist mein Atem. Und das Feuer ist mein Geist.“ Wir bedanken uns bei den vier Elementen.

Bild: Nicole Franco

Yorisma setzt zu einem letzten Tanz an. Mit kraftvollem Stampfen pumpt sie Energie in Pachamama. Ich werfe den anderen Teilnehmern einen prüfenden Blick zu. Ihre Gesichtszüge wirken entspannt, wie nach einer Meditation. Und ich glaube, das ist auch der Kern einer Kakao-Zeremonie. Man meditiert mit einer Tasse Liebe. Man ist nett zu sich, gestattet sich, das Denken durch das Fühlen zu ersetzen. Man schmeckt. Riecht. Fühlt. Ganz bewusst.

Alles Dinge, die man viel zu selten tut. Und wenn’s gut läuft, bewegt das was im Innersten. Zum Guten. Es erinnert einen daran, dass man weich sein darf, weil genau darin unsere Stärke liegt.„Denkt daran: Wenn euer Herz offen ist, ist alles möglich“, gibt uns Michelle zum Abschied mit – und ich bitte sie um ein kleines bisschen rohe Kakaomasse. Zum Mitnehmen. Für daheim. Sicher ist sicher.

Den Kakao entdecken

Kakao-Zeremonien werden mittlerweile in allen Teilen der Welt abgehalten, auch in Österreich, Deutschland und der Schweiz. Einfach danach googeln, oft bieten Yoga-Institute die Erfahrung an. Jede Zeremonie ist vom Ablauf her anders, es gibt kein fixes Regelwerk. Manche setzen auf Musik, Klangschalen, Tanz. Wichtig ist nur, den Geist möglichst abzuschalten und auf das Bauchgefühl zu vertrauen.

Die Kakao-Zeremonie, die unsere Autorin gemacht hat, findet in Playa del Carmen statt und ist unter apapacho.michelle@gmail.com zu buchen (zwischen 30 und 80 Euro pro Person, der Preis variiert je nach Teilnehmerzahl).

Die Journalistin und Buchautorin Waltraud Hable, 42, will sich die Welt ansehen. Die Route bestimmt ihr Herz. Es kennt den Weg, immerhin schlug es, bevor sie denken konnte. Sie sucht nichts Bestimmtes, sagt sie. Sie findet.