Prokrastination: heute schon was aufgeschoben?
Du bist nicht allein! 95 Prozent von uns kennen „Aufschieberitis“ aus leidvoller Erfahrung. Meistens haben wir sie im Griff, diese Kunst des gepflegten Vertagens. Aber warum bringen wir uns immer wieder selbst ins Schlamassel? Und vor allem: Was können wir dagegen tun?
Die Psychologin Catrin Grobbin, ist Spezialistin für Prokrastination („Aufschieberitis“) und Entspannung, unter anderem an der Uni Hamburg. Und sie hilft vielen Menschen aus der Vertagungsfalle. Wir haben mit ihr darüber gesprochen, warum man Unerledigtes so gerne vor sich herschiebt.
Frau Grobbin, gestern Abend habe ich die Griffe meiner Küchenschränke poliert, obwohl auf meinem Schreibtisch ein Stapel Rechnungen, Briefe und Schulunterlagen darauf brennt, von mir bearbeitet zu werden. Habe ich ein Problem?
Catrin Grobbin: „Das kommt darauf an, was der unberührte Stapel, also diese unerledigte Aufgabe, mit Ihnen macht. Wie hoch Ihr persönlicher Leidensdruck ist, wie sehr dieses Verhalten oder seine Auswirkungen Ihr Leben beeinträchtigt.“
Nicht sehr, aber gut fühlt es sich auch nicht an. Weil ich die Zettelwirtschaft ja im Hinterkopf habe und weiß, dass ich den Überblick verlieren könnte ...
„Was Sie da beschreiben, ist nicht ungewöhnlich. Jeder schiebt einmal etwas auf. In Befragungen geben sogar bis zu 95 Prozent an, Erfahrung damit zu haben. Es ist nur sehr unterschiedlich, wie stark dieses Verzögern, man spricht von Prokrastinieren, ausgeprägt ist und wie schwer die Konsequenzen sind. Wenn ich meinen Keller oder meinen Kleiderschrank nicht aufräume, hat das andere Auswirkungen, als wenn ich meine Arbeit nicht mache oder meine Rechnungen dauerhaft nicht bezahle. 10 bis 20 Prozent aller Aufschieber haben ein echtes Problem mit ihrem Verhalten und brauchen Hilfe. Aber auch wer ‚nur‘ im Alltag regelmäßig aufschiebt und sich damit unwohl fühlt, kann sein Verhalten mit oder ohne Unterstützung verändern.“
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Kann das Aufschieben im schlimmsten Fall sogar zu einer Krankheit werden?
„Ja, das kommt vor. Allerdings ist das Störungsbild noch nicht in den ICD-Katalog (weltweit anerkanntes Klassifikationssystem für medizinische Diagnosen; Anm.) aufgenommen worden.“
Macht das denn einen Unterschied? Also für die Betroffenen?
„Nur was die Kosten der Behandlung betrifft. Eine Psychotherapie auf Basis der Diagnose Prokrastination wird von der Krankenkasse nicht übernommen. Sind aber andere diagnostizierte Störungen wie eine Depression oder ADHS Auslöser für das Prokrastinieren, können Psychotherapeuten auf ebendieser Grundlage behandeln, und die Krankenkassen würden die Kosten auch erstatten.“
Jemand, der aufschiebt, ist meist alles andere als faul.
Gut, offensichtlich hat das Aufschiebeverhalten viele Gesichter. Lässt es sich dann überhaupt definieren?
„Schwer, weil der Deutungsspielraum so groß ist. Grundsätzlich kann man sagen, dass Prokrastinierer Probleme mit der Selbststeuerung haben. Im Englischen ist procrastinate ein alltäglich verwendetes Wort, das auf Deutsch nichts anderes als zaudern, zögern oder hinausziehen bedeutet. Der aus dem Lateinischen procrastinare abgeleitete Begriff steht für etwas nicht beginnen können oder nicht fertig bekommen – und das trotz besseren Wissens. In der Regel schwingt etwas von außen betrachtet ‚Unvernünftiges‘ mit. Wir handeln also mehr oder weniger wissentlich gegen unsere eigenen Interessen, führen stattdessen aber Ersatzhandlungen durch.“
Ich verstehe, Stichwort „Griffe polieren“. Prokrastinierer sind demnach sehr aktiv. Warum attestiert man ihnen dann gern Faulheit oder Schlendrian?
„Das wird häufig verwechselt. Jemand, der aufschiebt, ist meist alles andere als faul. Wer faul ist, macht nichts oder genießt seine Zeit. Jemand, der aufschiebt, ist trotzdem aktiv und denkt dabei obendrein ständig an die Arbeit, die eigentlich getan werden müsste, während er etwas anderes tut. Dazu kommt, dass Aufschieber, wenn sie dann fertig sind, so gut wie nie mit gutem Gefühl Feierabend machen, weil die aufgeschobenen Aufgaben ja immer noch präsent sind.“
Ist es vielleicht einfach nur Willensschwäche? Man kann sich nämlich sehr wohl zu gewissen Dingen zwingen ...
„Da haben Sie im Prinzip recht. Sogenannte Willensschwäche oder mangelnde Disziplin können Ursachen sein. Allerdings ist es nicht ganz so einfach, dass man sich ‚nur zwingen muss‘ und dann die Prokrastination überwindet. Meiner Erfahrung nach funktioniert das nur, wenn es gleichzeitig gelingt, Motivation aufzubauen, etwa durch das regelmäßige Erreichen und das bewusste Wahrnehmen und Feiern von Erfolgen. Auf diese Weise springt das interne Belohnungssystem des Körpers an und unterstützt das rechtzeitige Erledigen von Aufgaben durch die Ausschüttung von Glückshormonen. Willenskraft hingegen ist begrenzt, das heißt, wenn man sich immer wieder zwingt, funktioniert dieser Mechanismus nach einiger Zeit nicht mehr.“
Männer schieben häufiger auf als Frauen, Jüngere mehr als Ältere.
Was können sonst noch Gründe für das mitunter exzessive Hinauszögern sein?
„Da gibt es viele, und sie sind auch individuell verschieden. Eine Person kann bei unterschiedlichen Tätigkeiten ganz unterschiedliche Beweggründe haben, diese zu vertagen. Oft stecken Unsicherheiten oder die Angst vor einer negativen Bewertung dahinter. Die Sorge, etwas nicht zu schaffen, übertriebener Perfektionismus, zu groß gefasste Projekte, ein zu voller Terminkalender, mangelnde Unterstützung, falsche Ziele, Fehleinschätzung der Aufgabe oder der eigenen Anstrengungsbereitschaft und Leistungsfähigkeit. Um das Problem zu lösen – selbst oder mit professioneller Hilfe –, ist es ganz wichtig, zuerst die Gründe und dahinterstehenden Emotionen herauszufinden und zu verstehen.“
Begünstigen bestimmte Charaktereigenschaften das Prokrastinieren?
„Ja. Wer sehr impulsiv ist, hat Schwierigkeiten, lange im Voraus zu planen oder auf eine Belohnung zu warten. Dann werden Tätigkeiten im Hier und Jetzt vorgezogen, vor allem, wenn sie sich gut anfühlen. Längerfristige Aufgaben oder Ziele werden aufgeschoben, weil sie gerade nicht im Fokus sind.“
Gibt es auch eine Verbindung von Prokrastination zu anderen Krankheiten oder Symptomen?
„Schon. Menschen, die zum Beispiel an ADHS oder Depressionen leiden, haben ein erhöhtes Risiko, zu prokrastinieren. Aber Achtung, das lässt keinen Umkehrschluss zu: Wer Depressionen hat, ist nicht zwingend auch ein Aufschieber. Prokrastination gibt es auch als Einzelphänomen.“
Wäre es auch möglich, dass ich meinen Hang, Dinge auf die lange Bank zu schieben, geerbt habe?
„Die Forschung steht hier zwar noch am Anfang, aber aktuelle Ergebnisse kommen zu diesem Schluss. Und: Wir lernen Verhaltensweisen ja auch von den Personen – meist den Eltern –, die uns in der Kindheit prägen. So kann man auch sagen, dass wir ein bestimmtes Verhalten weitergegeben bekommen – oder eben nicht, weil wir uns vielleicht auch extra anders verhalten, um uns abzugrenzen.“
Was sagen Alter, Beruf oder Geschlecht über die Wahrscheinlichkeit aus?
„Statistisch gesehen verschieben Männer häufiger auf als Frauen, Jüngere mehr als Ältere und Freiberufler mehr als Angestellte. Das sind aber nur Mittelwerte.“
Welche Rolle spielen soziale Medien? Die sind doch die perfekte Ablenkung!
„Natürlich bieten sie neue Alternativen der Ablenkung. Aber Prokrastination gibt es schon seit Tausenden von Jahren. Wer aufschiebt, findet immer eine andere Beschäftigung. Auch ohne Instagram.“
Auch wenn es kein Patentrezept gibt: Wie merke ich, dass mein Aufschiebeverhalten bereits krankhaft sein könnte?
„Indem Sie selbstkritisch sind und die Frage, wie negativ es Ihr Leben beeinflusst, ehrlich beantworten. Was verlieren Sie dadurch? Geld, Gesundheit, Nerven, Nachtschlaf, Leistungsfähigkeit? Was tut es Ihrem Körper, Ihrer Seele an? Liegen Ihnen die unerledigten Aufgaben im Magen, haben Sie ständig ein schlechtes Gewissen? Erreichen Sie Ihre persönlichen Ziele nicht mehr? Kommt es in Ihrer Paarbeziehung oft zu Streit oder Enttäuschung wegen nicht eingehaltener Versprechen? Nehmen wir das Beispiel mit Ihrem unbearbeiteten Stapel: Kann es sein, dass Sie deshalb Fristen versäumen und draufzahlen müssen oder Ihr Kind eine Party verpasst, weil die Einladung ungelesen auf Ihrem Schreibtisch liegt?“
Willenskraft ist begrenzt. Besser hilft auf das körpereigene Belohnungssystem setzen!
Na ja, Mahnspesen könnten es schon werden ... Was aber spannend ist: Sie führen Probleme in der Partnerschaft an. Prokrastinieren betrifft also nicht nur die Arbeit, die Ausbildung oder unangenehme administrative Aufgaben?
„Sehr häufig schon, natürlich, aber sie macht vor keinem Lebensbereich halt. Sie berührt auch (Lebens-)Entscheidungen, Tätigkeiten für die eigene Gesundheit, Einkäufe, Beziehungspflege und eigentlich schöne Dinge wie Hobbys oder Reisen. Auch für die muss man planen, organisieren, vielleicht Geld sparen oder zwischen Optionen wählen. Diese Aspekte werden dann gerne aufgeschoben.“
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Erzeugt das dann, zumindest kurzfristig, ein gutes Gefühl? Andernfalls würden wir es ja nicht alle so häufig tun.
„Ja, schon. Aber wenn überhaupt, fühlt sich Prokrastinieren nur ganz kurz gut an. Ist man der unangenehmen Aufgabe ausgewichen, kann Entspannung oder Erleichterung aufkommen. Das ist aber nicht immer und bei jedem so. In der Summe überwiegen unangenehme Gefühle wie Scham, Angst, Stress, Frustration oder manchmal sogar Selbsthass.“
Das klingt für mich jetzt aber nach klassischen Suchtsymptomen.
Ist Prokrastination denn eine Sucht?
„Von Sucht würde ich nicht sprechen. Ein Teil des Verhaltens könnte schon so wirken, weil es Parallelen zu den Merkmalen von Suchtverhalten gibt, wie etwa der scheinbare Kontrollverlust oder die zeitweise Unfähigkeit, abstinent zu bleiben. Auch Schuldgefühle und Verleugnung nach außen treten bei Prokrastination mehr oder weniger stark auf. Aber andere Merkmale fehlen: So haben Prokrastinierer kein starkes Verlangen danach, ihr Verhalten zu wiederholen, eher im Gegenteil. Auch gibt es aus meiner Erfahrung weder Toleranzbildung oder Entzugserscheinungen, wenngleich sich das Verhalten natürlich über die Zeit verstärken kann, vor allem wenn so viel Unerledigtes aufgehäuft wurde, dass der Betroffene keinen Anfang mehr findet.“
Auch wenn die Gründe zum Aufschieben individuell variieren: Gibt es dennoch so etwas wie Paradeprokrastinierer, also eine Art Kategorisierung?
„Verschiedene Forscher haben verschiedene Typen herausgearbeitet – aber da sind wir wieder beim Thema Ausprägung und Interpretationsspielraum. Ich finde es vor allem wichtig, dass jeder für sich selbst herausfindet, woran es liegt und was hilft.
Prokrastinieren Sie selber auch?
„Selbstverständlich! Früher noch mehr als heute. Ich finde, das ist ganz normal.“