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Ich habe ein Buch gelesen, das getan hat, was Bücher manchmal tun: Es hat mein Leben verändert. Nicht sofort und auch nicht mit unvergesslichen Sätzen, sondern eher schleichend, von hintenrum.

Es ist ein Kochbuch, das nur ein Rezept enthält: das Rezept für perfekte Ruhe. Und auf 255 Seiten liefert dieses Buch vorab auch Verständnis für seine Entstehung mit. Sinnvoll ist es, sich nicht gleich als Chef des Sich-Ausrastens zu gerieren, sondern erst die Zutaten zu würdigen. Das Buch heißt „Die Kunst des Ausruhens“, wobei erst der Untertitel „Wie man echte Erholung findet“ auf die Essenz des Werks verweist.

  • Denn mit Ausruhen meint die Autorin, die britische Psychologin und BBC-Moderatorin Claudia Hammond, 50, nicht das süße Nichtstun oder gar schlafen, „das Ausruhen, von dem ich hier spreche, umfasst alle erholsamen Tätigkeiten, denen wir im wachen Zustand nachgehen. (...) Ausruhen ist alles, was der Einzelne als Ausruhen betrachtet.“

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Ausruhen und neu denken

In einer umfangreichen Studie wurden aus den persönlichen Vorlieben von 18.000 Menschen aus 135 Ländern die dafür bedeutsamsten Faktoren destilliert – die Großen Zehn Erholsamkeiten (ich nenne sie ab sofort kurz GZE) –, für deren detaillierte Bestimmung Frau Hammond weitere Untersuchungen heranzog. „Ich möchte Sie dazu anregen, Ihre Einstellung gegenüber dem Ausruhen zu überdenken und sich über dessen Platz in Ihrem Leben klar zu werden.“

Nichts leichter als das, denke ich. Und weil ich großen Respekt vor Menschen hege, die es schaffen, ihr Wissen in Bücher zu packen, blättere ich nicht sofort auf Seite 281, wo das perfekte Rezept für Ruhe wartet, sondern beschäftige mich – Kapitel für Kapitel – mit den GZE.

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Da wäre auf Platz 10 beispielsweise die Achtsamkeit, auf Platz 9 das Fernsehen, auf 2 Zeit in der Natur verbringen und auf Position 1 das Lesen, dazwischen ein langer Spaziergang (Platz 6) oder nichts Besonderes tun (5). Zeit mit der Familie zu verbringen schaffte es übrigens nicht unter die Top Ten, sondern landete erst auf Platz 12. Nichts davon überrascht mich wirklich.

Ich entdecke Parallelen zu Heidi Lists „Me-Time“-Geschichte und stelle fest, dass ich nicht nur ein Ruhe-Kenner bin, sondern ein Ruhe-Könner. An einem Montag im November schaffe ich ohne Anstrengung zumindest ein Ruhe-Tripel: Es beginnt damit, dass ich im Wald laufe, also Zeit in der Natur verbringe (Platz 2 der GZE). Und während ich mich darüber freue, knirschen Steinchen unter meinen Schuhen, das Laub raschelt, und die Luft riecht so wie der Pfeifentabak, den mein Vater viele Jahre in einer Blechdose aufbewahrt hat. Ich verbuche 30 Minuten auf meinem Ruhekonto.

Ich stelle fest, dass ich nicht nur ein Ruhe-Kenner bin, sondern auch ein Ruhe-Könner.

Woflgang Wieser, Versuchskaninchen

Nach der Rückkehr gönne ich mir einen Espresso im Stehen. Der scheint in den GZE nicht auf. Ich überlege, ob ich ihn unter Tagträumen (8 in den GZE) verbuchen könnte, entscheide mich aber dafür, ihn unter „ein schönes heißes Bad nehmen“ (7 in den GZE) zu berücksichtigen, weil ich bereits das Wasser einlasse, dem ich mit Badesalz ein beruhigendes Blau verpasse, während ich den Kaffee schlürfe.

In Summe, also Laufen und Baden, ergibt das bereits eine Erholungszeit von 90 Minuten. Perfekt wird das Tripel, weil ich in der Wanne „Die Kunst des Ausruhens“ lese. Und lesen gilt ohnehin als der absolute Ruhe-Genuss (1 in den GZE). „Lesen begünstigt das gedankliche Abschweifen, weil es ein idealer Ausgangspunkt für Tagträume ist“, schreibt Frau Hammond.

Tatsächlich hätte ich an diesem Tag beinahe ein Quadrupel geschafft. Auf der Fahrt ins Büro höre ich entgegen meiner sonstigen Gewohnheit, mich an der Stille beziehungsweise dem beruhigenden Brummen des Autos zu erfreuen, das wunderbare Album von Silk Sonic, womit ich weitere 30 Minuten in meiner morgendlichen Ruhebilanz hätte verbuchen können (Musik hören, Platz 4).

Das wird dann aber nichts, weil ein entgegenkommender Autolenker mehrere Lastwagen überholt und ich einen Zusammenstoß nur dadurch vermeiden kann, indem ich sehr nachdrücklich auf die Bremse trete und ungesund weit Richtung Straßengraben lenke. Adrenalin schießt mir bis unter die Haarspitzen. Mit meiner Ruhe ist es vorerst vorbei.

Das Glück ist mit dir: mit Achtsamkeit durch den Tag

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Entspannungspedanterie

Ich finde aber, dass 90 Minuten bis zehn Uhr morgens eine anständige Leistung sind, muss mich aber hier gleich wieder korrigieren, weil die Definition von Ruhe als Leistung wenig zweckdienlich ist. „Werden Sie nicht ausruhesüchtig und zum Entspannungspedanten“, empfiehlt Frau Hammond, „manchmal braucht man eine Pause vom Pausemachen.“

Womit wir uns nun endgültig dem perfekten Rezept für Ruhe zuwenden. Frau Hammond listet insgesamt zwölf Punkte auf. Um sie entspannt zu ergründen (Achtsamkeit, Platz 10 der GZE), beschließe ich, diese Geschichte mit Bleistift zu skizzieren – und zwar mit einem Jumbo Grip von Faber-Castell, Härtegrad B. Ich schreibe in ein Notizbuch, das ich vor Jahren im Rijksmuseum in Amsterdam gekauft habe.

Darauf sind Tulpen zu sehen, genau genommen zwei, eine Muschel, ein Schmetterling, eine Libelle. Bevor ich zu schreiben beginne, atme ich tief ein und langsam aus. Mit dem Entweichen der Luft lasse ich meine Schultern sinken. Ich neige nämlich dazu, die Anspannung beim Schreiben in Schultern und Nacken zu bündeln, meine aber, dass ein Text über das Rezept zur Ruhe eine gewisse Leichtigkeit braucht – darum: Atmen, Bleistift, Notizbuch.

Pausen verstecken sich überall

Beim anschließenden Durchblättern stellte ich fest, dass sich meine Handschrift geändert hat – und zwar mitten im Satz. Das liegt daran, dass ich eine Pause gemacht habe, weil Nicole das Büro betreten hat.

Nicole ist die Chefredakteurin dieses Magazins. Sie ist auf der Suche nach einer Kollegin, dann auf der Suche nach dem richtigen Stück Schokolade. Gleich neben der Tür steht nämlich ein Körbchen, in dem sich Süßigkeiten befinden (erstaunlich, denke ich, dass „Schokolade essen“ es nicht in die GZE geschafft hat).

Ich nutze die Gelegenheit, um mit ihr über Claudia Hammonds Buch zu sprechen, was Sich-Ausrasten für sie bedeutet und dass wir uns weit mehr Erholungsphasen gönnen als geglaubt, nämlich fünf bis sechs Stunden.

Ich erzähle Nicole, dass ich geplant hätte, meine Pausen zu notieren, dies aber nicht geschafft hätte; warum, wisse ich eigentlich nicht, aber ich nähme an, dass es tatsächlich daran liege, dass wir viele Pausen nicht aktiv erleben. Nicole sagt, dass sie unsere Unterhaltung gerade als Pause erlebe. Fein, ich langweile sie also nicht. Tatsächlich empfiehlt Frau Hammond, „die Stunden zu zählen, in denen Sie ausruhen“.

Damit verbunden sind mehrere Fragen: „Wie war es denn gestern? Hatten Sie genug Zeit, körperlich und geistig neue Kraft zu tanken? Konnten Sie Pausen einlegen und nachdenken? Konnten Sie auch einmal nachdenken und ansonsten gar nichts tun? Und konnten Sie zwischendurch einmal völlig abschalten?“ Durchschnittlich sechs Stunden und neun Minuten erholen sich Männer täglich, schreibt Frau Hammond, Frauen vierzig Minuten weniger.

Geht sich das tatsächlich aus? Ich rechne nach: 30 Minuten Laufen, 60 Minuten Baden (inklusive der 10 Minuten für den Espresso), mittags 20 Minuten plaudern mit einem Kollegen, den ich schon lange nicht mehr gesehen habe, macht bisher 110 Minuten. Dazu die 10 Minuten mit Nicole – macht 120 Minuten, also exakt zwei Stunden.

Wenn die Heimfahrt so verläuft, wie ich sie mir vorstelle, kann ich 45 weitere Minuten notieren, macht insgesamt bereits 165 Minuten. Außerdem habe ich vor, mir heute Abend die letzten beiden Folgen der dritten Staffel von „The Kominsky Method“ mit Michael Douglas anzusehen, erfahrungsgemäß gönne ich mir zuvor noch ein paar You Tube-Videos. In Summe geschätzte 70 Minuten, bevor ich mich zur Ruhe begebe, macht 235 Minuten, also nicht ganz vier Stunden.

Fazit: Wenn ich all die kleinen Pausen berücksichtige, die zwischendurch anfallen, die ich aber so gar nicht registriere, bin ich von den sechs Stunden und neun Minuten nicht allzu weit entfernt.

Mein perfektes Rezept für Ruhe ist ein Eintopf, der langsam vor sich hinköchelt. Eine Prise Laufen gehört dazu.

Woflgang Wieser, Versuchskaninchen

Frau Hammond schlägt in Punkt zwei des Ruhe-Rezepts vor, „sich zu fragen, wodurch Sie am besten regenerieren“. „Sich von anderen zurückziehen, sich sportlich betätigen, damit der Geist entspannen kann, die Gedanken frei schweifen lassen“ sind einige ihrer Vorschläge. „Einige Zutaten werden Sie mehr ansprechen als andere. Das perfekte Rezept dafür erhalten Sie, wenn Sie sich fragen, welche Ihnen zusagen und welche nicht.“

Tatsächlich habe ich darüber noch nie nachgedacht. Doch dann lese ich auf Seite 284 drei Fragen: „Wichtig ist, dass Sie sich Zeit nehmen und überlegen, warum Sie die eine Betätigung erholsam finden und die andere nicht. Was lenkt Sie wirklich von belastenden Gedanken und von den Erwartungen anderer ab? Was ermöglicht Ihnen, das Tempo zu drosseln oder ganz anzuhalten, ohne dass Sie ein schlechtes Gewissen bekommen oder befürchten, in den Augen anderer schlecht dazustehen?

Ich muss nochmals an das Gespräch mit Nicole denken, die gesagt hat, dass sie unsere kleine Plauderei als Pause, als Erholung, gewissermaßen als eine Form des Sich-Ausrastens betrachtet habe. Dafür sage ich hier Danke. Weil mir ihre Bemerkung die Beantwortung von Frau Hammonds Fragen möglich macht: Mein perfektes Ruhe-Rezept ist ein Eintopf, der langsam vor sich hin köchelt.

Eine Prise Laufen gehört dazu (am liebsten bei Temperaturen unter zehn Grad Celsius) und ein Hauch von Klettersteig (gerade erst entdeckt, nicht zu scharf, maximal bis Kategorie D). Den alten Marillenbaum mit einer Kettensäge in Form zu bringen hat mich auch entspannt. Im Winter mag ich Sonnenskilauf und im Sommer Stand-up-Paddeln. Ein Bad – ganz klar – oder mehrere Saunagänge mit anschließendem Sprung ins Tauchbecken bescheren mir ein knuspriges Grinsen. Und Bücher!

Zen-Experten mögen das als sinnloses Papperlapapp abtun, aber: Am besten erhole ich mich beim Reden.

Woflgang Wieser, Versuchskaninchen

Aber am besten erhole ich mich – beim Reden. Zen-Experten und Aufmerksamkeitsstreberchen mögen das als sinnloses Papperlapapp abtun. Ist aber so. Immer schon.

Ich habe es nur nie als Erholung gesehen, das haben mir erst die Lektüre dieses Buches und, ja, die kleine Plauderei mit Nicole klargemacht. Ich erinnere mich an einen Tag in der Volksschule, an dem sich der Gerald plötzlich ungefragt neben mich setzte und – als ich ihn mit erstauntem Blick ansah – sagte: „Mit dir kann man so schön tratschen.“ Für mich war das eine willkommene Einladung, mich von den Mühsalen des Dividierens zu absentieren.

Und ich denke an Freund Ho, der mittlerweile nach Athen übersiedelt ist, den ich aber noch immer gerne anrufe, wenn ich mit dem Auto irgendwohin fahre. Er serviert mir sein Leben in amüsanten Häppchen, und hin und wieder verlieren wir uns in einer Ideenwelt, die weniger gut gelaunte Menschen als nutzlose Tagträumereien abtun würden.

Reden ist meine Ruhe-Nummer-eins. Tratschen ist mir sozusagen Goldes wert (und nicht nur Silber). Es hilft mir, meine Sichtweisen zu überprüfen und meine Gedanken einzukochen. Wenn wir schon dabei sind: Nichts gegen Selbstgespräche. Das ist reden mit jemandem, den man liebt!