Wo Streuner-Katzen die Menschen zusammenhalten
Zuerst bekam unsere Travel-Autorin Mitleid mit den räudigen Miezen, dann sah sie genauer hin.
Istanbul. Im Herbst. Das stand so nicht auf der Liste. Ich gebe zu, die Philippinen oder Australien hätten mehr Sinn ergeben, routentechnisch und auch, was das Wetter betrifft. Immerhin sehe ich alles unter zwanzig Grad als persönliche Folter.
Aber manchmal muss man die Richtung ändern, weil die Richtung, in die man marschiert, einen keinen Meter weiter bringt.
Nach fünf Monaten Asien und einer Lebensmittelvergiftung war ich körperlich müde – und geistig ein klein wenig abgestumpft. Alles schien mir „same same, but different“: Tempel, Pagoden, Strände, Nachtmärkte. Das ist nicht gut.
Denn wenn man die Wunder dieser Welt nicht mehr richtig zu schätzen weiß, macht man als Reisende was falsch.
Also bin ich mit mir selbst ins Gericht gegangen und habe mein Herz fragt: „Was willst du?“ Die Antwort kam prompt: „Was Vertrautes zum Durchschnaufen. Straßen, an denen Ampeln funktionieren und man nicht an jeder Kreuzung drei Kreuze schlagen muss, dass man die Sache überlebt. Und Schönheit, ganz viel Schönheit, aber eine Schönheit bitteschön, die ich kulturell einordnen kann.“
Von Miezen regiertes Istanbul
Ich überlegte kurz. Dann fiel die Wahl auf Istanbul. Die Stadt schien mir – halb in Europa und halb in Asien liegend – eine ideale Wahl. Außerdem wollte ich schon bei meiner ersten Weltreise hierher, nur fand damals gerade der Putschversuch statt, und alle warnten davor, in die Türkei zu reisen.
Was soll ich sagen? Was lange dauert, wird bekanntlich richtig gut. Und Istanbul war gut.
Die Stadt begrüßte mich Herbst-atypischen 28 Grad (danke, Universum), literweise frischem Granatapfelsaft und einem Basar, so bunt, dass einem schwindlig werden kann. Dazu: Fischer am Bosporus und mitten im Gewusel der Millionenstadt romantisch mit Weinreben und Efeu verwachsene Gassen. Ich sah ein Hochhaus, dessen Fassade mit hunderten Stöckelschuhen dekoriert war.
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Kebab, strammer Po und Eitelkeiten
Für ein Kebab, das als Geheimtipp galt, stand ich zwanzig Minuten an, und die lange Schlange war das Warten wert. Ich wunderte mich über die vielen Typen mit bandagierten Schädeln und blutig, violett-rot gepunkteter Haut. Und schlussfolgerte, dass alternde türkische Männer eitel sind, während sich Haartransplantationszentren freudig über so viel Kundschaft die Hände reiben.
Ach ja, und dass die Muskeln meines Allerwertesten schmerzten, nahm ich höchst wohlwollend zur Kenntnis. In Istanbul, wo Gassen sich teilweise steil wie der Mount Everest vor dir auftun, brauchst du keinen Stepper oder Fitnessstudio mehr, die stramme Beine-Po-Partie gibt’s gratis zum Besuch obendrauf.
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Miauender Begleitschutz
Doch das, was mich am meisten beschäftigte, waren die Straßenkatzen. Rund 150.000 davon gibt es laut Schätzungen in Istanbul. Und die räudigen Miezen regieren die Stadt: Sie thronen auf Autos, schlafen seelenruhig in U-Bahn-Eingängen, spielen Türsteher für Geschäfte, maunzen vor Fischhändlern und folgen einem als ungefragter Begleitschutz durch die City.
Meine erste Reaktion war Mitleid. Von wegen Mah, die armen Viecher.
Dann sah ich genauer hin und bemerkte: Die Tiere sind erstaunlich wohlgenährt. Offiziell mögen sie keinem gehören, aber inoffiziell kümmert sich jeder um sie. Istanbuls Bewohner stellen für die Streuner flächendeckend Plastikbehälter mit Wasser und Trockenfutter auf, manche kriegen sogar Edelfisch aus der Dose. Plus Streicheleinheiten und Fellpflege; nicht wenige Streuner sind auffallend fluffig gebürstet und frisiert. Es ist ein großes, funktionierendes Netzwerk an Katzenliebe.
Eins, das mich mitunter zu Tränen rührte. Wobei, das darf man jetzt nicht überinterpretieren: Die wässrigen Augen können mitunter auch von den vielen Katzenhaaren in der Luft kommen, meine Schleimhäute reagieren allergisch auf die Tiere.
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Sozialer Kit
Dennoch: Istanbul – diese 15-Millionen-Einwohner-Metropole, in der es ein Leichtes wäre, anonym in der Masse dahinzuleben – hat sich nachhaltig in mein Herz gebrannt. Weil die Stadt sich selbst in die Pflicht nimmt und dank der Tiere wie eine Dorfgemeinschaft agiert.
Die Streuner fungieren unbewusst als sozialer Kit. Die Bewohner treffen sich auf den Straßen zum Futterwechsel, zum Streicheln, zum Beobachten, wenn Katzenbabys ihre ersten Tapser auf den Pflastersteinen machen. Und mehr als einmal habe ich jemanden ein Tier minutenlang und gedankenversunken streicheln gesehen.
Vielleicht stimmt es, was man sagt: Manchmal braucht man die Stille der Tiere, um sich von den Menschen und der Hektik, die sie verbreiten, zu erholen. Und: Nächstenliebe rules! Weiter geht‘s nach Kappadokien, wo Waltraud den Zauber entdeckt.