Samba – ein Tanz aufs Leben
Reiseautorin Waltraud Hable macht beim legendären Karneval in Rio de Janeiro mit. In einem Kostüm, das mehr Hintern zeigt, als ihr lieb ist. Aber es geht nicht um Nacktheit, sondern darum, dass Samba ein Türöffner ins Reich der Emotionen ist.
Es ist kurz vor Mitternacht, und ich stehe in fünf Meter Höhe auf der oberen Etage eines rot glitzernden Festwagens, der einem Showgirl-Varieté nachempfunden ist. Schweißperlen laufen über mein Gesicht, es hat schwüle 26 Grad; doch ich traue mich nicht, sie wegzuwischen – aus Angst um mein Make-up. Unter mir befinden sich Absperrungen aus Gitterzäunen, fliegende Händler, Scheinwerfer sowie ein Meer an Schaulustigen. Auch die billigen Plätze des Karnevals sind für viele in Brasilien oft nicht leistbar. Also sind Tausende in die Seitenstraßen gepilgert, um zumindest einen Blick auf die Vorbereitungen und auf die opulenten Kostüme zu erhaschen.
„Tanz für mich!“, ruft ein Typ in der Menge zu mir hoch und zückt die Handykamera. Tanzen? Für einen dahergelaufenen Fremden? Normalerweise würde ich solche Aufforderungen ignorieren. Aber heute ist nicht normalerweise. Also knipse ich mein strahlendstes Lächelnan, werfe ihm eine Kusshand zu, lege noch ein paar Sambaschritte hin und wackle kokett mit dem Allerwertesten.
Im selben Moment ertönt ein lauter Knall, begleitet von raketenartigem Zischen. Die Stadt Rio zündet zu Ehren jeder der sechs Sambaschulen, die heute live vor 90.000 Zuschauern und einem Millionen-TV-Publikum ihr Können zeigen werden, ein Feuerwerk. Der funkelnde Goldregen, der gerade über unseren Köpfen niedergeht, ist der offizielle Startschuss für Mangueira – „meine“ Sambaschule. Und irgendwie, so will ich glauben, ist das Spektakel am Nachthimmel auch für mich. Es geht los.
Alle Zeichen sprachen dagegen
Ich habe lange überlegt, wie ich diese Geschichte erzählen soll. Denn es ist nicht nur eine Story – zu viele Fäden sind hier miteinander verwoben. Zum einen war da dieses Wort, das mit „P“ beginnt und mit „andemie“ endet. Von offizieller Seite hatte man den Karneval bereits abgesagt. Doch dann wurde plötzlich entschieden: Lasst ihn uns trotzdem abhalten. Nicht traditionell Ende Februar, sondern ein paar Monate später, als Signal, dass wir uns zurück ins Leben wagen wollen.
Außerdem wäre ich um ein Haar gar nicht mehr in der Stadt geweilt. Nachdem zwei halbstarke Teenager gemeint hatten, dass es eine gute Idee sei, mich mit vorgehaltener Pistole zu bedrohen und auszurauben, wollte ich aus Brasilien abreisen. Einen Tag lang habe ich nur geheult. Dann rappelte ich mich auf und beschloss: Ich ziehe das jetzt durch – weil Samba nicht einfach nur ein Tanz für mich ist. Samba ist das Tor zu Emotionen, die ich viel zu lange habe brachliegen lassen. Das gibt man nicht einfach wegen zweier Nachwuchsganoven auf.
Samba ist mein Tor zu Gefühlen, die ich viel zu lange habe brachliegen lassen.
Samba braucht Zeit
Begonnen hat aber alles noch viel früher, vor knapp drei Jahren. Als ich bei meinem damaligen Brasilien-Aufenthalt im Tanzstudio von Carla Campos, einer Ex-Samba-Königin mit großem Herzen und klugen Augen, aufkreuzte, tat ich das in der Hoffnung, irgendwann einmal wie eine dieser selbstbewussten sexy Südamerikanerinnen tanzen zu können, auf die ich immer neidisch geschielt hatte.
Doch schnell stellte sich heraus: Das wird … ähem … schwierig. Arme plus Beine gleichzeitig bewegen? Womöglich auch noch gegengleich und in unterschiedlichen Tempi? Keine Chance. Wenn man als übergewichtiges Kind mit null Bewegungsdrang aufwächst, rächt sich das motorisch eben. Und dass mir wie den meisten Mädchen in unseren Breitengraden von klein auf eingetrichtert wurde, mich „neutral“ und bloß nicht aufreizend zu bewegen (damit Männer nur ja nicht auf falsche Gedanken kämen), war ebenfalls wenig hilfreich für meine Mission.
Doch was einen fordert, ist oft auch der Schlüssel zu mehr. Insofern wurde ich immer, wenn ich wieder in Rio mein Domizil aufschlug, im Studio von Carla vorstellig. Samba kann ich zwar nach wie vor nicht wirklich gut tanzen. Die blitzschnellen Schritte, die zeitlupenartigen Armbewegungen und der laszive Hüftschwung lassen mich regelmäßig verzweifeln. Aber der Tanz hat mich von innen aufgebrochen, im positiven Sinn.
Samba hat mich weicher gemacht. Und damit stärker. Trotzdem war ich von mir selbst überrascht, als ich verkündete: „Ich will das auch.“
Carla hatte mich ein Kostüm aus ihrem Karnevalfundus anprobieren lassen, und plötzlich fühlte ich mich dazu berufen, dieses Sambaköniginnendings ebenfalls zu versuchen. Meine Tanzlehrerin lächelte zufrieden: „Das kriegen wir hin. Unter einer Bedingung: Du musst endlich aufhören, dir einzureden: ‚Ich kann das nicht!‘“ Dann, so meinte sie, wäre alles möglich. Oder, na ja, zumindest vieles.
Rote Unterhosen? Nicht erlaubt.
Jetzt stehe ich also da. In Rot, Pink und mit prächtigem Federkonstrukt am Kopf, bei dem an Bling-Bling nicht gespart wurde. Das Ding ist erstaunlich leicht, nur der eingenähte Metalldraht drückt auf die Stirn. Doch alles abnehmen und erneut fixieren, dafür ist keine Zeit mehr.
Unter meinem bauschigen Tüllrock, der eher der Kategorie „Gürtel“ zuzuordnen ist, blitzt mein bumbum (portugiesisch für Hintern) hervor. Als ich vor einer Woche mein Kostüm, genannt fantasia, in der „Sambastadt“ – das sind die Produktionsstätten der Sambaschulen – abholen durfte, überlegte ich kurz, eine rote Unterhose zu kaufen. Oder irgendetwas, was meine Hinterbacken zumindest mehr bedeckt als der mitgelieferte String-Body.
Doch als ich den irritierten Blick von Carla und Kostümdesigner Augusto Santos sah, verwarf ich die Sache ganz schnell wieder.
Die Regeln und das liebe Geld
„Nein, nein, nein“, flüsterte Carla mir zu. „An den fantasias darf kein einziges Detail verändert werden: keine Feder, kein neues Höschen, keine anderen Schuhe. Das käme einem Affront gegenüber der jeweiligen Sambaschule gleich.“ Das Ganze gehe sogar so weit, dass jeder, der den einheitlichen Look gefährdet, von der Teilnahme ausgeschlossen wird. Aber nicht nur wegen dieser Info war die Anprobe lehrreich.
Beim Gang durch die Werkstätten begann ich zu verstehen, dass Augusto und sein Team nur ein Rädchen im großen Ganzen sind. Mangueira – eine der traditionsreichsten Sambaschulen Rios, die 1928 gegründet wurde – beschäftigt unzählige Kostümbildner. Pro Jahr sind bis zu dreißig verschiedene Looks am Start, die dann jeweils zu Hunderten angefertigt werden – immerhin gilt es, 4.000 bis 6.000 Menschen pro Parade einzukleiden. Erst seit wenigen Jahren lässt Mangueira auch externe Teilnehmer zu.
Die Voraussetzungen: Man muss Samba in den Grundzügen beherrschen – und wie jeder und jede für sein Kostüm zahlen. Mich hat der Spaß rund 900 Euro gekostet.
Da war sicher einiges an Deppensteuer dabei – wie das halt oft passiert, wenn man der lokalen Sprache nicht wirklich mächtig ist und meint, trotzdem in der Oberliga mitmischen zu wollen. Wagenplätze sind per se teuer, weil es pro Schule nur 200 bis 300 solcher Spots gibt. Am Boden mitzutanzen kommt günstiger.
Da ist man ab 150 Euro dabei. Wenn schon, denn schon, dachte ich und bezahlte zähneknirschend meinen Tülltraum samt fahrendem Untersatz. Zumindest darf man alle Teile später behalten, sogar die Lackstiefel, die Augustos Team selbst geschustert hat.
Was mich berührt: Die Ältesten nehmen teils im Rollstuhl an der Parade teil, auch trotz der späten Stunde.
Tausende Kostüme, eine Story
Aus der Zuschauerperspektive ist der Karneval bunt, schrill, laut, und man sieht ständig wackelnde Körperteile. Lange dachte ich: Na ja, das in Rio wird halt wie der Rosenmontag in Köln sein, nur mit schöneren Menschen und besseren Verkleidungen. – Doch in den vergangenen Monaten habe ich gelernt: Hinter jedem Umzug steckt ein ausgeklügeltes Konzept. Mangueira will zum Beispiel dieses Jahr die Geschichte dreier Großmeister des Sambas erzählen: die des brasilianischen Komponisten Cartola, des Sängers Jamelão und des Choreografen Delegado.
Mein Kopfschmuck birgt deshalb eine gigantische Blüte aus Kunstleder, weil ein Song Cartolas As rosas não falam („Die Rosen sprechen nicht“) heißt. Und einer der sechs Festwagen wird die Zuschauer mit dem Duft von Orangenblüten einnebeln, weil das das Lieblingsparfum von Cartolas großer Liebe war.
All diese Infos schwirren mir durch den Kopf, als ich endlich ins Sambódromo einziehe. Das Stadion hat einen 700 Meter langen Laufsteg, der auf einen Betonbogen von Star-Architekt Oscar Niemeyer zuführt. Eine Konstruktion, die nicht ganz zufällig an die weibliche Kehrseite in einem String-Bikini erinnert. Vor mir sind schon vier Festwagen gestartet und haben eine gigantische Farbexplosion ausgelöst. Dazwischen marschiert die Sambaschulband mit Trommeln, Schellen, Tamburinen und Glocken.
Und: Es gibt Gesang. Denn jeder, der am Umzug beteiligt ist, muss die aktuelle Karnevalshymne seiner Sambaschule mitsingen. Immer dasselbe Lied, in Dauerschleife. Das gilt auch für Gringas wie mich. „Den Liedtext zu beherrschen ist essenziell“, hat Carla mir bereits im November eingebläut, als ich mich für die Teilnahme anmeldete. Damals lud ich mir den Song auf meine Playlist und war erst einmal überfordert. Portugiesisch ist keine einfache Sprache. Aber dann auch noch poetische Verse und – wie alles im Samba – so schnell, dass Hirn und Zunge kaum nachkommen! Uff.
„Notfalls bewege ich nur wie eine Kaulquappe die Lippen, wird schon keinem auffallen“, redete ich mir ein. Doch in den letzten Tagen übte ich dann fast panisch. Denn wenn man erst einmal begriffen hat, dass der Karneval nicht nur aus Spaß an der Freud’ veranstaltet wird, sondern dass die Schulen um rund eine Million US-Dollar Preisgeld rittern, dann kriegt man Muffensausen. Man will nicht diejenige sein, die Punkteabzüge bei der Jury wegen sprachlicher Faulheit riskiert.
Die Juroren bewerten nämlich nicht nur Kostüme und Dramaturgie, sondern genauso, ob die Gruppen durch ihren Gesang und ihre Gesten das Publikum mitreißen können. Was insofern trickreich ist, als der Rio-Karneval immer nachts stattfindet, genauer gesagt zwischen 22 Uhr und 5 Uhr, wenn die Sonne untergegangen und die Arbeit niedergelegt ist.
Das bedeutet: Irgendwann wird auch das feierwütigste Publikum müde – und man muss sich noch mehr anstrengen, um alle zu erreichen. Und während ich oben auf meinem Wagen mit vierzig anderen singe, tanze und die Arme hochreiße, um Mangueira nur ja keine Schande zu machen, erhasche ich plötzlich einen Blick auf den Mond. Er hängt halbvoll und wie ein lachender Mund am Himmel. Und ich kann nicht umhin, kurz innezuhalten und zu denken: Vielleicht geht’s beim Karneval um nicht weniger, als gemeinsam das Dunkel der Nacht zu vertreiben.
Und manchmal macht es wumm
Ich könnte jetzt noch viel erzählen. Von der nicht enden wollenden Wand an Gesichtern etwa, die man im Vorbeifahren im Publikum sieht. Und dass man immer wieder … wumm … für Millisekunden eine Verbindung zu völlig Fremden aufbaut. Blicke treffen sich. Man wirft sich Luftküsse zu, formt mit den Fingern ein Herz. Oder die Tatsache, dass die Sambaschulen stets ihre gebrechlichsten Mitglieder im Schlepptau haben!
Rollstühle werden von Helfern beschwingt durch den Tross geschoben – und auch wenn die betagten Herrschaften oft kaum die Kraft haben, zu winken: Sie tauchen auf. Einer für alle. Alle für einen. Würde ich hingegen meiner 87-jährigen Oma eröffnen: „Du musst um Mitternacht – oder je nachdem, wann deine Sambaschule eben dran ist – in voller Montur durch das Sambó dromo ziehen“, die Gute würde mir den Vogel zeigen.
Ein Kran holt uns ab
Tanzen. Singen. Jubeln. 20, 30, 40, 60 Minuten lang. Schweiß tropft meine Beine hinunter. Doch es scheint kein Ende in Sicht. Da sind die Fernsehkameras. Die Jurybereiche. Die VIP-Logen. Tribünen. Noch mehr Tribünen … Irgendwann kann ich nicht mehr. Mir wird schwarz vor Augen.
Ich dachte zwar, vom täglichen Joggen Ausdauer zu haben, aber 90 Minuten Samba geht an die Substanz. Und so toll es wirken mag, auf einem Karnevalswagen zu stehen … mir dämmert, dass das nicht unbedingt der beste Platz für Anfänger ist. Denn da oben fällt schneller auf, wenn man schlapp macht. „Mach langsamer“, sagt der Blick der Tänzerin neben mir, als sie sieht, wie ich mich am Geländer abstütze. „Wir schaffen das.“
Ich nicke dankend und setze auf das, was Carla mir als Notfallplan mitgegeben hat: „Schultern zurück, Arme ausbreiten, mach dich groß, nicht klein“, meinte sie. „Und: Vergiss nicht, zu lächeln.“ Solange ich lächle, trage ich zumindest zur Gesamteuphorie bei.
Als der Festwagen endlich aus dem Sambódromo ausfährt, falle ich erschöpft in die Knie. Ein Kran mit Hebebühne eilt heran, um uns abzuholen. Ursprünglich diente eine wackelige Leiter für den Aufstieg; doch jetzt muss es schnell gehen, denn schon bald rollt die nächste Sambaschule mit ihren tausenden Fantasiewesen an. Und während ich auf die rettende Plattform klettere und der Kran seinen Arm schwenkt, bekomme ich einen Blick aus der Vogelperspektive. Auf die Lichter. Die Farben. Die Euphorie der Massen. Aber vor allem trifft mich die kumulierte Energie dieser Nacht.
Mir beginnt zu dämmern, dass der Platz auf dem Festwagen nicht die beste Wahl für Anfängerinnen wie mich ist.
Der Zauber des „Sinnlosen“
Der Karneval mag auf den ersten Blick keinen Sinn ergeben. Warum so viel Aufwand für ein paar Stunden? Aber ich glaube, es gibt ihn, weil wir alle in einer tiefen Sehnsucht nach Schönheit verbunden sind. Der Karneval lässt uns Welten erschaffen, die es so nie geben kann – aber allein die Tatsache, dass man sich trotzdem die Mühe macht, sie zu kreieren, gibt Hoffnung. Meine Energiespeicher mögen leer sein, aber mein Herz ist bis zum Anschlag voll.
Und als wieder ein Feuerwerk loskracht zum Start für die nächste Sambaschule, muss ich lächeln. Ich weiß, im nächsten Umzug wird es jetzt jemanden geben, dem es ähnlich geht wie mir. Jemand wird in den Himmel schauen, tief durchatmen und sagen: Dieses Feuerwerk ist für mich – und meine Geschichte.
Kolumne Waltrauds Reisen: Herz über Kopf um die Welt
Die Journalistin und Buchautorin Waltraud Hable, 43, will sich die Welt ansehen. Die Route bestimmt ihr Herz. Es kennt den Weg, immerhin schlug es, bevor sie denken konnte. Sie sucht nichts Bestimmtes, sagt sie. Sie findet.
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