Ein Fels in Brasilien macht klar: Use it or lose it
Travel-Autorin Waltraud Hable klettert auf den den höchsten Küstenmonolithen der Welt.
Es gibt eine alte Reiseweisheit, die besagt: „Du sollst nie aus einer Destination abreisen, ohne ein neues Ziel zu haben.“ Das muss nicht unbedingt ein geografisches Ziel sein, Hauptsache irgendein Vorhaben geistert in den Hirnwindungen herum. Ansonsten wandert man dort, wo Flughafen oder Bahnhof einen ausspucken, ziemlich verpeilt herum. Und dafür ist das Leben zu kurz.
Du sollst nie aus einer Destination abreisen, ohne ein neues Ziel zu haben.
Alte Reiseweisheit
Als mein Abschied von Rio de Janeiro immer näher rückte, war ich genau das, was ich nicht sein wollte: Ich war planlos. Ich wusste, ich würde in Europa meine Familie besuchen, gute Freunde drücken und dann weiterreisen, wohin auch immer die Einreisebestimmungen es erlauben. Aber sonst? Hm. Keine Ahnung. Die Sache plagte mich. Zwei Tage bevor ich endgültig aus Brasilien abflog, sollte ich doch noch meine Antwort bekommen. Und zwar auf dem höchsten Küstenmonolith der Welt, dem Pedra da Gávea.
Als Berg würde ich das 842 Meter hohe Teil nicht bezeichnen, nennen wir es lieber ein imposantes Felsplateau. Aber die wahre Herausforderung an Pedra da Gávea ist, dass es nur eine Richtung gibt, nämlich steil bergauf. Kaum hatte ich den Tijuca Nationalpark betreten, stand ich vor 60 Grad Neigungswinkel und meine Kniegelenke und Oberschenkelmuskeln ächzten. Nach zehn Minuten ging mein Atem nur noch keuchend, nach zwanzig Minuten war mein T-Shirt tropfnass geschwitzt. „Wie lange dauert es noch, bis wir oben sind?“, fragte ich Thiago, meinen Guide, als ich mich an einer rostigen Kette einen großen Felsen hinauf hangelte. Irgendein Wohltäter hatte diese Aufstiegshilfe vor Jahren befestigt. „Ich schätze, wir brauchen noch zwei Stunden“, meinte Thiago und sprang wie eine Berggämse vor mir rum. „Und der Weg führt die ganze Zeit so steil hinauf?“ – „Ja“, hörte ich Thiago sagen. „Hilfe aus der Luft gibt es nur, wenn du dir ein Bein brichst“, meinte er dann noch, als könne er Gedanken lesen. „Mentaler Zusammenbruch zählt also nicht als Grund, um einen Rettungshubschrauber zu rufen?“ Kopfschütteln.
Mentaler Zusammenbruch zählt also nicht als Grund, um einen Rettungshubschrauber zu rufen?
Ich war verzweifelt. Zumal mich ständig Wanderer überholten. Darunter auch Frauen, die aussahen, als könnten sie keine Stunde Jogging durchhalten, und ältere Herren mit Wanderschuhen, bei denen sich schon die Sohlen lösten. Jeder schien sich leichter rauf zu wurschteln als ich. Dabei dachte ich, ich wäre eigentlich ganz gut trainiert. Ich bin während der Quarantäne-Monate in Rio de Janeiro jeden Tag sechs Kilometer an der Strandpromenade gelaufen. Ich hatte ein- bis zweimal die Woche Samba getanzt. Mein Ruhepuls liegt bei 55, eigentlich ein guter Wert. Aber Pedra da Gávea ließ mich an allem zweifeln. Zu Recht.
Als Thiago und ich schließlich endlich oben standen und sich Rio de Janeiro in seiner ganzen Pracht vor uns ausbreitete – unten Ipanema, rechts die goldenen Strände von Barra, in der Ferne Cristo Redentor, das majestätische Wahrzeichen der Stadt –, trank ich erst mal meine Wasserflasche leer und schob mir einen Sack Mandeln und zwei Äpfel in den Mund, um wieder zu Kräften zu kommen. Dann setzte ich mich auf einen Felsvorsprung und dachte nach.
Warum war der Aufstieg so hart gewesen? Wieso brannten meine Oberschenkelmuskeln, als wären sie durch die Hölle gegangen? Warum schien ich nach außen hin fit, aber war es ganz offensichtlich doch nicht? Zehn Minuten starrte ich ins Nichts, bis ich mir die Antwort eingestand. Sie lautet: Weil ich zu oft den bequemen Weg gehe. Beim Sport. Und eigentlich bei vielem im Leben. Auf meine Kondition gemünzt mag ich zwar täglich joggen gehen. Aber meine Route führt meistens nur eine schnurgerade Promenade entlang, ohne viel Auf und Ab, ein überschaubarer Weg ohne Abwechslungen. Und auch sonst weiche ich allem, wobei ich meinen Stolz verlieren und mein Ego einen Dämpfer kriegen könnte, gerne aus. Dabei ist es gerade dieses unbequeme Auf und Ab, das uns für das Leben und seine vielen Situationen fit macht.
Gerade das unbequeme Auf und Ab macht uns für das Leben und seine vielen Situationen fit.
„Bereit für den Abstieg?“, fragte Thiago, als er sah, dass ich wieder ansprechbar war. „Nein“, lachte ich. „Aber hilft ja nix. Ich muss da wieder runter, egal, wie.“ Und während wir über glitschige Felsen rutschten und ich mir mehrmals die Knie aufschlug, wusste ich, was als Nächstes zu tun war: Ich würde meinen Körper, dieses großzügige Wunderwerk, das mich durch die Welt trägt, künftig noch besser warten müssen – indem ich sowohl meinen Muskeln als auch meinem Hirn mehr neue Herausforderungen gönne. Das mag auf den ersten Blick nach Schinderei klingen. Aber der Spruch „Use it or lose it“ hat schon was. All die Muskelgruppen und Hirnzellen, die uns mitgegeben wurden, verdienen Aufmerksamkeit. Ansonsten werden sie faul, beleidigt oder gar beides. Kurz: Sie verkümmern, und dieser Zustand schränkt einen ein.
Was das für die Praxis bedeutet? Seit ich auf Heimatbesuch in Europa bin, habe ich schon zwei Waldläufe absolviert. Rauf und runter ging’s, und ich war fix und fertig, aber es war gut. Und ansonsten? Habe ich mich zu einem Online-Sprachkurs angemeldet, um endlich besser Portugiesisch zu lernen und die nächste Destination ist eine, die ich noch nicht von vorherigen Besuchen kenne.
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