„Bewegung!“ – ein Plädoyer von Gernot Schweizer für eine gesunde Gesellschaft
Der Trainer von Superstars wie Marcel Hirscher träumt von einer Gesellschaft, die vor Freude hüpft, läuft und baumkraxelt. Weil sie sich bewegen will – nicht muss.
Gehen, hüpfen, Stufen steigen. Einkaufssäcke tragen, Purzelbäume schlagen. Den inneren Schweinehund von der Leine lassen, mit ihm Schlitten fahren – und nicht vergessen, ihn zu streicheln. Wenn wir mit dem Herzen fühlen, was Bewegung mit uns macht, wird die Vernunft dafür sorgen, dass wir uns jeden Tag bewegen. Gernot Schweizer, Physiotherapeut, Buchautor und Trainer von Athleten wie Superstar Marcel Hirscher, über seine Vision von einer Gesellschaft, die will. Nicht muss.
Gernot Schweizer, der Titel ihres Buches „Bewegung!“ ist keine Empfehlung, es ist ein Kommando. Verstehen wir es nur noch auf diese Art?
Gernot Schweizer: „Ich fürchte, ja. Um meine Vision von einer gesunden Gesellschaft zu verwirklichen, braucht es klare Worte, und das jetzt. Es ist höchste Zeit!“
Gut. Aber was genau verstehen Sie unter einer „gesunden Gesellschaft“?
Gernot Schweizer: „Menschen, die sich selber spüren können. Die wissen, was ihnen guttut und was nicht. In welcher Dosierung, wie und wann. Dieses Gefühl ist vielfach verloren gegangen. Es geht mir darum, eine neue Bewegung auszulösen. Nicht nur die des eigenen Körpers, sondern die der Gesellschaft. Eine Bewegung für die Bewegung.“
Spür doch, wie geil es ist, dich selbst zu spüren!
Gibt’s diese Bewegung nicht schon längst? Wir wissen doch alle, dass Wohlbefinden auch mit einem aktiven Körper zusammenhängt.
Gernot Schweizer: „Sind Sie sicher, dass das alle wissen?“
Na ja. Wenn ich wandern gehe, sehe ich jede Menge bewegte Menschen.
Gernot Schweizer: „Sie sehen ein paar jener Menschen, die zu den 30 Prozent der Bevölkerung zählen, die sich bewegen. Von diesen 30 Prozent ist nur die Hälfte auf das, was sie da tut, vorbereitet. Die übrigen machen den Berg spontan zum Ausflugsziel, den Sportplatz schnell zur Eventlocation. Nach Monaten, in denen sie sich nicht bewegt haben!“
Die einen tun also nichts. Die anderen tun zu viel, aber das viel zu unregelmäßig. Was sind die Folgen?
Gernot Schweizer: „Schwer in Mitleidenschaft gezogene Körper, die dann mithilfe unserer fortgeschrittenen Wiederherstellungschirurgie gerichtet werden. Prävention und Rehabilitation finden kaum statt, wir sind zur Reparaturgesellschaft mutiert. Warum? Weil die Vernachlässigung des eigenen Körpers keinerlei Nachspiel für den Patienten hat. Er wird ja immer aufgefangen.“
Ein kurzes Warm-up am Berg ist also zu wenig. Aber wie geht das dann mit dem Verantwortung-Übernehmen?
Gernot Schweizer: „Bereiten Sie Ihren Körper stetig auf Herausforderungen wie das Skifahren vor. Der Alltag bietet so viele Möglichkeiten. Nehmen Sie öfter die Treppe statt den Lift. Tragen Sie Ihre Einkaufssäcke nach Hause, oder spazieren Sie zum Essen ins Restaurant. Die Wurzel liegt in den kleinen Dingen, die wir kaum wahrnehmen.“
Eigenwahrnehmung und Eigenverantwortung sind also die Grundzutaten, um in Bewegung zu kommen. Was noch?
Gernot Schweizer: „Die Vernunft. Die mengt sich dann aber ganz von selber bei. Es geht niemals mit Druck. Nur wenn wir den Zusammenhang zwischen Bewegung, Gesundheit und Lebensqualität mit ganzem Herzen verstehen, werden wir über den Verstand in die echte Veränderung kommen.“
Haben Sie nicht das Gefühl, dass derzeit schon einiges an Veränderung passiert?
Gernot Schweizer: „Doch. Aber der Mensch ändert sein Verhalten erst, wenn er schon krank ist. Da ist es aber oft zu spät.“
Nur wenn wir den Zusammenhang zwischen Bewegung, Gesundheit und Lebensqualität mit ganzem Herzen verstehen, werden wir über den Verstand in die echte Veränderung kommen."
Und was ist, wenn ich das wirklich will – aber einfach nicht weiß, wie’s geht?
Gernot Schweizer: „Sie kriegen jetzt von mir keine schnelle Pille. Die gibt’s nicht, weil wir alle verschieden sind. Aber: Wer heute beschließt, sich 30 Minuten am Tag Zeit zu nehmen, um sich zu bewegen, hat den Anfang gemacht. Auch Geselligkeit ist ein guter Motor: Vereine oder ein Freundeskreis, in dem man sich gegenseitig ermuntert, was zu tun. Wenn alle gehen, bleibt man nicht allein daheim.“
Aus Bewusstsein wird also Bewegung. Und wann wird daraus dann Sport?
Gernot Schweizer: „Viel später, wenn überhaupt! Bewegung hat nichts mit Sport zu tun, sie ist aus der Evolution entstanden: sich schützen, jagen, essen, sich fortpflanzen. Vor ein paar hundert Jahren ist der Mensch täglich bis zu vierzig Kilometer gegangen. Heute sind es im Schnitt 1.200 Meter. Wir entwickeln uns hier leider zurück. Und das hat Folgen für das Herz-Kreislauf-System, für die Kognition, für alle unsere Systeme. Sport ist eine reine Erfindung des Menschen."
Eine gute Erfindung?
Gernot Schweizer: „Wenn der Sport nicht einseitig ist, schon. Und wenn wir nicht den Fehler machen, uns dabei an Helden zu orientieren.“
Die Diagnose Bewegungsmangel ist nicht neu. Doch Gernot Schweizer zeigt auf, wie sich dieses Problem in den letzten Jahren immer weiter verschärft hat. Er klärt darüber auf, was Bewegungsmangel anrichtet – am Einzelnen, in der Gesellschaft und am Gesundheitssystem. Er fordert eine neue Diskussion und innovative Lösungen, um die körperliche Rückentwicklung der Gesellschaft zu stoppen. Als Österreichs Bundeskoordinator für Bewegung hat er auch einen Plan, unseren Kindern Bewegung näher zu bringen: „Es gibt kein Kind, das ohne Bewegungsdrang auf die Welt kommt. Aber es gibt viele, denen er genommen wird.“ Mehr lesen
Gernot Schweizer, geboren 1966 in Esslingen am Neckar, Inhaber von Schweizer Therapie & Training, ressortübergreifender Koordinator der österreichischen Bundesregierung für Bewegung. Physiotherapeut und Trainer unter anderem von Marcel Hirscher. Gernot Schweizer lebt und arbeitet in Salzburg. Das Buch ist im Ecowin Verlag erschienen. 218 Seiten, 24 Euro