Überleben unter Richtigmachern, Teil X
Perfektionismus ist etwas für Fantasielose. Denn oft macht ein kleiner Perspektivenwechsel das Leben ungleich perfekter!
Neulich habe ich mich nach dem Aufstehen angezogen. Zugegeben: eine Tätigkeit, die ich beinahe täglich ausübe, außer die Kinder sind bei Oma und Opa. Ich wählte eine blaue Hose und ein schwarzes Poloshirt. So weit, so okay. Der Mann, der mir im Badezimmer aus dem Spiegel entgegenblickte, löste dennoch eine kurze Irritation aus. „Der sieht irgendwie seltsam aus“, dachte ich. „Kenn ich den? – Egal, ich putz ihm trotzdem die Zähne.“
Wie lange ich auch überlegte, ich kam nicht drauf, was mich so an mir konsternierte. Schließlich war es mein Sohn, der mir die Antwort gab: „Eine blaue Hose passt doch nicht zu einem schwarzen Polo, Papa!“ Blau mit Schwarz ist keine perfekte Kombination. Das schlägt sich. Nicht nur bei der Kleidung, wie uns die Vergangenheit lehrt ... Mein Spross hatte recht.
Andererseits warf der Stylingratschlag aus Kniehöhe mehr Fragen auf, als er beantwortete: Warum streben so viele nach dem absolut Perfekten? Dem perfekten Auto, dem perfekten Haus, der perfekten Beziehung, den perfekten Kindern? Ich bin seit über sechs Jahren verheiratet. Fragen Sie ruhig meine Frau: Mit Perfektionismus habe ich wenig am Hut. Im Gegenteil, mir werden Menschen zunehmend sympathischer, die zu ihren Macken stehen können.
Es gibt ja Kollegen, die fast einen Blutsturz kriegen, wenn eine Fliese verkehrt rum verlegt wurde. Okay ... Man könnte aber auch sagen: Unikat! Das hat sonst keiner. Perfektion ist Ansichtssache: Mein Nachbar putzt sein Auto mit der Zahnbürste. Mein Schweinehund und ich warten lieber auf den nächsten Regen.
Perfektion ist Ansichtssache Mein Nachbar putzt sein Auto mit der Zahnbürste. Ich warte auf den nächsten Regen.
Auch die Aussage „Unser Betrieb bleibt geschlossen!“ ist Perfektion in Reinkultur. Zumindest im Winter – und wenn man sie aus der Sicht eines Siebenschläfers oder eines Fensters betrachtet. Das sogenannte „perfekte Date“? Muss wahrlich nicht beim kleinen Italiener in engem Kleid vollzogen werden. Daheim in Jogginghosen, Füße hochgelagert, inklusive Pizzabestellung ... So geht das auch.
Steige ich auf die Waage, empfinde ich mein Gewicht nicht als perfekt. Liege ich auf der Couch mit einer Wasserwaage, sieht die Sache schon wieder anders aus. Da erreiche ich die perfekte Position! Ich war vor kurzem in einem echt grindigen Beisl. Die Möbel, die Schank, einfach alles wirkte abgeranzt. Durch die Toiletten waberte ein Geruch zwischen Klostein und Urinstein. Die Wände waren komplett mit Stickern und Sprüchen zugemüllt.
Links neben dem leeren Seifenspender prangte der Satz: „Der Penis ist die Antenne des Herzens.“ Ich musste lachen: Diese Lebensweisheit rundete das Ambiente mit Perfektion und Konsequenz ab.
Ich glaube, wir Menschen sind nicht für banale Perfektion geboren (ein Blick auf unsere selbst geschraubten Ikea-Regale stützt diese These), kreativ gedachte Perfektion findet sich jedoch überall! Ich lasse die blaue Hose an. Heute soll ein perfekter Tag werden. Aber nach meiner Art von Perfektionismus: mindestens zwanzigmal lachen und keine Zahnschmerzen.