Gisbert forscht: Der eingebildete Gesunde
Wie wir uns gesund denken und gesund fühlen: Über die ganz und gar erstaunliche Macht des Placebos.
Wir lernen, dass der Arzt viel wichtiger ist als die Arznei. Dass es sogar bei Ratten einen Placebo-Effekt gibt und was das für uns Menschen bedeutet. Und dass uns hängende Mundwinkel Angst machen.
Ich hörte also diese fantastische Geschichte von einem amerikanischen Chirurgen aus Houston namens Bruce Moseley. Er operierte vor allem ältere Patienten, die meisten wegen ihrer Kniearthrose. Eines Tages, es war im Jahr 2002, wollte er herausfinden, welchen Anteil am Erfolg seiner Behandlung die durchgeführten Arthroskopien eigentlich hatten. Also arthroskopierte er einen Teil der Patienten nach der Narkose einfach nicht. Er ritzte nur ihre Haut an den entsprechenden Stellen an, versorgte die kleinen Wunden ordnungsgemäß und beließ im Inneren des Knies alles beim Alten.
Arthrose vorher, Arthrose nachher. Dann weckte er die Patienten auf, sagte, dass alles gut verlaufen sei, super OP, in drei Wochen Kontrolle, auf Wiedersehen. Die Leute kamen nach drei Wochen und waren genauso happy wie jene, denen der Knorpel wirklich abgeschabt worden war. Bruce Moseleys Geschichte gilt als einer der eindrucksvollsten Belege für den sogenannten Placebo-Effekt.
Dass man also wirklich gesund wird, nur weil man sich einbildet, gesund zu werden. Okay, dachte ich, darüber will ich mehr wissen. Erstens weil ich selber in der Zehe Arthrose hab und zweitens ein Freund von mir in der Hüfte und drittens überhaupt: Wie geht das, dass ich mir einbilde, ich werde gesund, und es klappt?
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Das alles brachte mich zu Manuel Burzler, einem jungen Münchner Arzt (nämlich wirklich jung, Jahrgang 1990). Was ihn zu einem Experten für dieses Thema macht: Burzler hat sich nach dem Studium nicht in den herkömmlichen ärztlichen Alltag einsortiert, sondern sich das Thema Gesundheit ganzheitlicher angesehen, Naturstoffmedizin, Umweltmedizin, Zusammenspiel von Körper/Seele/Geist und vor allem Epigenetik.
Das ist kurz gesagt die Wissenschaft davon, dass unsere Gene unser Leben nicht lenken, sondern wir selbst, indem wir gewisse Gene aktiv anschalten und andere eben nicht, und wie wir das alles am besten tun. (Spoiler: nicht zuletzt durch unsere Gedanken und Gefühle.) Gemeinsam mit einem Kollegen betreibt Burzler in München das Institut „deine Mindbase“, er bildet dort unter anderem interessierte Laien und medizinisches Fachpersonal zu Epigenetik-Coaches aus.
Wir haben da also einen gestandenen Mediziner mit einem absoluten Faible für das Thema der heilsamen Kraft unserer Gedanken – über das man in der Medizin sonst öfter mal ein wenig die Nase rümpft. Tatsächlich, erfahre ich, entfaltet der Placebo-Effekt in unserem Körper eine sehr ähnliche Wirkung wie viele Medikamente, da gibt es jede Menge Studien, kein Zweifel mehr.
Beispiel Schmerz: Nehmen wir eine Pille ein, von deren Wirkung wir überzeugt sind, macht das was mit uns, bevor wir die Pille überhaupt geschluckt haben. Sie triggert entstressende Hormonkreisläufe, zunächst produziert unser Körper weniger Noradrenalin, Adrenalin, Cortisol. Zugleich bildet er verschiedene Endorphine, die an Opioidrezeptoren andocken und dadurch den Schmerz aktiv lindern – alles wie Morphium, nur ohne Nebenwirkungen. Außerdem bildet unser Körper, wenn er die tolle Pille sieht, Oxytocin, das den selbsterklärenden Spitznamen „Kuschelhormon“ trägt und das wir normalerweise ausschütten, wenn wir uns sicher, geborgen und mit anderen verbunden fühlen. (Funfact: Das gilt auch für Tiere, sogar für den Kuschel-Part.)
Und, ja, Oxytocin lässt uns Schmerzen weniger stark empfinden. Der Körper denkt sich also: „Ah, super Pille, die hilft mir!“, und verhält sich so, als würde ihm geholfen, auch wenn die Pille nur Maisstärke enthält. Und weil durch das alles der Stress nachlässt, geht in vielen Fällen nach einiger Zeit sogar die Entzündung zurück, die den Schmerz ausgelöst hat. So wirkt Placebo also direkt gegen die Schmerzen und indirekt gegen ihre Ursache.
Zum Stress noch was, Manuel Burzler erklärt noch einmal extrem eindrücklich, warum Dauerstress, chronischer Stress so schrecklich für uns ist, und zwar auf Zellebene: „Stresshormone pushen uns kurzfristig, kurbeln alle Prozesse an, geben uns Superkräfte. Aber Dauerstress schickt unsere Zellen in einen Notfallmodus, alle Prozesse in der Zelle laufen schlechter, es wird zum Beispiel weniger Adenosintriphosphat gebildet.“
ATP ist für unseren Körper, was für ein Auto das Benzin ist, es geht uns also sprichwörtlich der Saft aus. Und weiter: „Sogar die Bildung des Glutathions wird runtergefahren.“ Das ist insofern besonders blöd, als Glutathion unser wichtigstes körpereigenes Antioxidans ist, also eine Substanz, die sogenannte freie Radikale unschädlich macht. Kurz gesagt: Der Stress, den dauerhafte Schmerzen verursachen, raubt uns die Lebensenergie und schwächt unsere Abwehr. Davon können wir erst recht ordentlich krank werden.
Placebo ist eine Art von hausgemachtem Morphium, Omega-3-Fettsäuren und Vitamin C zusammen. (Das würde Manuel Burzler nicht so formulieren, weil es wissenschaftlich nicht ganz korrekt ist, aber ich darf das, so ganz unkorrekt ist es nämlich auch nicht.)
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Was kann man tun, um die Placebo-Wirkung zu verstärken, Dr. Burzler? „Der Effekt wird umso stärker, je intensiver er an einen körperlichen Reiz gekoppelt ist. Das heißt: Eine Placebo-Spritze wirkt stärker als eine Placebo-Pille. Und noch viel wesentlicher ist das Verhältnis vom Therapeuten oder Arzt zum Patienten. Also wenn da Verständnis, Vertrauen, Sicherheit herrscht, wenn ich mich bei meinem Arzt gut aufgehoben fühle: Das verstärkt den positiven Effekt enorm, also den Placebo-Effekt ebenso wie die Wirkung einer tatsächlichen Arznei.“
Wir sprechen von einer Verstärkung in welcher Größenordnung? „Erwiesen ist: Rund siebzig Prozent des Erfolgs einer Behandlung liegen am Arztgespräch.“ Siebzig? „Ja, siebzig. Plus/minus.“
Nur damit ich das verstehe: Wenn mich der Arzt hopphopp abfertigt oder ich ihm nicht vertraue oder er mich nicht behandelt wie einen Menschen, sondern wie ein kaputtes Auto, das jemand zur Reparatur gebracht hat, dann reduziert das die Wirkung der Therapie um gut zwei Drittel? „Könnte man so sagen. Empfindet der Patient Gefühle wie Angst und Unsicherheit, wird die Behandlung nicht durch einen Placebo-Effekt unterstützt, sondern vielleicht sogar durch das Gegenteil, den Nocebo-Effekt, gestört.“
Wie viel haben Sie in Ihrem Medizinstudium – das liegt ja nicht so lang zurück – darüber gelernt? „Nicht viel.“ Placebo hat viel mit dem zu tun, was wir „klassische Konditionierung“ nennen. Und was wir jetzt gleich lernen werden, ist, dass das ein Begriff ist, der nicht nur in die Psychologie gehört, sondern auch in die handfeste Physiologie.
Offenbar lassen sich nämlich auch Zellen konditionieren: Man hat Ratten, erzählt Manuel Burzler, das Herz transplantiert. Weil das Immunsystem frisch transplantierte Organe wie einen bösen Eindringling loswerden möchte, muss man es eine Zeitlang unterdrücken, Fachbegriff supprimieren. Also gab man den Ratten nach der Transplantation entsprechende Medikamente. Und immer, wenn sie solche Immunsuppressiva bekamen, gab es ein paar Schluck leckeren Glukosesaft dazu. Zuckerwasser. Nach vier Wochen, eigentlich viel zu früh, um die Medikamente abzusetzen, setzte man sie ab. Zuckerwasser gab es weiter.
Ergebnis: Das Immunsystem blieb ein paar weitere Monate brav unterdrückt. Die Biochemie der Rattenkörper hatte den süßen Geschmack und die Medikamente so sehr gekoppelt, dass sie selbst für die immunsupprimierende Wirkung sorgte.
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Was das für uns Menschen heißt? Das heißt, dass wir sehr wahrscheinlich unsere Zellen durch Sinneswahrnehmungen trainieren können, konditionieren, ihr Verhalten verändern, in einem Ausmaß, das wir noch lange nicht verstanden haben. In Manuel Burzlers Münchner Institut lernen seine Klienten, wie sie sich die Vorteile eines Placebo-Effekts selbst basteln können. Man kann sich nämlich auch mithilfe von Meditationen, Visualisierungen, Arbeit an den Glaubenssätzen das überschüssige Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol aus dem Körper spülen und sich sein Oxytocin und seine Endorphine basteln.
„Zum Beispiel lässt sich die Heilung eines verletzten Beins sehr wirksam unterstützen, wenn man sich während einer Meditation intensiv vorstellt, wie die Heilung perfekt abläuft, wie die entzündungshemmenden Stoffe an der Verletzung arbeiten, wie das Bein sich anfühlt, wenn es wieder in Ordnung ist. Wenn man sich das sehr lange, sehr intensiv, sehr bildlich vorstellt, erzielt man Effekte, wie wir sie aus dem Placebo kennen.“
Was für eine Macht überhaupt in diesem ganzen übergeordneten Thema Epigenetik liegt, sogar über Generationen hinweg, ist durch jede Menge Untersuchungen belegt. Zum Beispiel durch eine aus den Niederlanden: Kinder von Menschen, die im Zweiten Weltkrieg gehungert hatten, neigten erstaunlich oft zu starkem Übergewicht. Neigung und Übergewicht waren viel zu heftig, als dass man sich das nur durch die Erziehung hätte erklären können. Klar: Leute, die Hunger gelitten haben, schauen drauf, dass die Kinder brav aufessen. Aber sogar der Stoffwechsel der nächsten Generation hatte sich umgestellt. Der Stoffwechsel! Die Zellen hatten aus dem Erlebten der Eltern gelernt und deren Fähigkeit übernommen, aus weniger Kalorien mehr Energie zu erzeugen. Was der einen Generation das Überleben gesichert hatte, machte die nächste übergewichtig und fett.
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Noch schnell was zu Nocebo, weil es Burzler vorhin angesprochen hat und weil es so arg ist und ja auch wichtig zu wissen: Nocebo ist nicht nur das Gegenteil von Placebo, es ist mehr. Leider. Wenn wir uns nicht gesund, sondern krank denken, werden dabei nicht nur mehr von den stressenden Hormonen ausgeschüttet und weniger von den entspannenden. Außerdem produziert unser Darm einen Stoff namens Cholecystokinin, der über die Darm-Hirn-Achse die passenden Angst- und Panikstörungen fördert.
Nocebo beginnt recht unscheinbar, zum Beispiel mit hängenden Schultern und runtergezogenen Mundwinkeln. Das deswegen, weil die dabei betätigten Muskeln Signale senden, dass sie eben gerade hängen, und unser System reagiert darauf mit der Bildung der passenden Hormone und Gefühle. Wir können uns also durch ein trauriges Gesicht traurig machen – das gilt aber auch umgekehrt: Ziehen wir die Mundwinkel rauf, auch ohne dass uns gerade zum Grinsen zumute ist, baut sich der Körper die dazu passenden Glückshormone. (Gleich probieren!)
Übrigens kennt Burzler auch die Geschichte von Dr. Bruce Moseley und der Arthrose, und das ist jetzt die weniger gute Nachricht für meine Zehe und die Hüfte meines Freunds: In der Chirurgie gibt es zwar auch einen Placebo-Effekt, sagt er, aber da weiß man erstens noch lange nicht so viel drüber wie in anderen medizinischen Disziplinen, und er ist zweitens auch weniger stark ausgeprägt.
Burzler vermutet, Moseleys spektakuläres Ergebnis lag vor allem daran, dass die chirurgische Knorpelschaberei bei Arthrose grundsätzlich nur eine überschaubare Wirkung entfaltet, da lag damals also einfach die Latte fürs Placebo nicht besonders hoch.