In Partnerschaft mit

Ich hatte also erstaunlich schöne, ein bisschen verstörende, berührende Erlebnisse mit der Rhythmus-Sprach-Tanz-Methode Taketina. Aber bevor ich dir davon erzähle, ist es gut, wenn du eine ungefähre Ahnung vom Ausmaß meines Ungeschicks im gesellschaftlichen Umgang kriegst. Ich achte bei Begegnungen mit Menschen auf ausreichenden Sicherheitsabstand, bevorzugt besteht der aus einer Tastatur, einem Monitor und einer Druckerei. Wird’s unmittelbarer, empfinde ich das als herausfordernd.

Früher, als ich noch auf Partys gegangen bin, war mir zum Beispiel wichtig, stets eine Zigarette in der einen und ein Bierglas in der anderen Hand zu halten – nicht weil ich Zigaretten oder Bier gemocht hätte, sondern um der Verlegenheit zu entgehen, jemand Fremdem die Hand schütteln oder ihn gar umarmen zu müssen, geschweige denn einer Tanzfläche nahezukommen. Ich fühlte mich sicher, sobald rund um mich zu laute Musik dröhnte, um mit jemandem zu sprechen, der Raum zu dunkel für Augenkontakt war und ich hinter meinem Rücken eine Wand wusste, besser noch: eine Raumecke.

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Seit ich nicht mehr rauche und kein Bier mehr trinke, fühle ich mich in Menschenansammlungen nackt und ausgeliefert, so bekleidet und unbeachtet kann ich gar nicht sein. Den Gymnasiums-Spitznamen Pinocchio verdankte ich einem beherzt pubertären Vorstoß auf eine Tanzfläche. Die negative Asperger-Diagnose, die ich vor ein paar Jahren bekommen habe, halte ich für einen Grenzfall zum Kunstfehler. Jetzt, wo du das weißt, wird es glaub ich ziemlich lustig für dich, wenn ich dir von meinem Taketina-Erlebnis erzähle.

Taketina wird eigentlich TaKeTiNa geschrieben. Das Wort wird nicht englisch ausgesprochen, wie man meinen könnte, nicht Teik-Taina oder so, sondern in vier deutschen Silben: Ta-Ke-Ti-Na. Taketina ist ein Mix aus Rhythmus, Bewegung, Sprache, Melodie und Tanz, man übt in Gruppen, erfunden wurde das Ganze vor ungefähr fünfzig Jahren von Reinhard Flatischler, einem österreichischen Musiker. Taketina wird mittlerweile weltweit praktiziert, ausgebildete „Teacher“ gibt es von den USA bis Australien. Als mir Sissy das erste Mal von Taketina erzählte, betonte sie Ta-Ke-Ti-Na auf den Silben „Ta“ und „Ti“, klatschte dabei rhythmisch in die Hände und verlagerte ihr Körpergewicht von einem Bein aufs andere. Ich bekam eine vage Vorstellung von Taketina als irgendetwas zwischen einer indianischen Versammlung zum Regentanz und einer ausdrucksbetonten Darbietung des Lieds „Aquarius“ aus dem Musical „Hair“.

Sissy ist eine gute Freundin von mir und eine sehr profilierte Taketina-Lehrerin. Sie unterrichtet seit fünfzehn Jahren, und als ich sagte, dass ich nicht sicher bin, ob Taketina und ich wirklich perfekt zusammenpassen, sagte sie:

„Taketina lässt sich nicht so leicht erklären. Komm doch einfach einmal vorbei.“

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Ich sagte „hm“, sah mich vor meinem inneren Auge mit einer Gruppe wildfremder, bedrohlich gut gelaunter Menschen konfrontiert, die mich zur Begrüßung sicherlich alle innig umarmen wollen. Ich sah mich hölzern klatschen, dazu einzelne Silben holprig singelsangeln und in verhalten ekstatischen Tanzschritten durch den Raum staksen. Vor meinem inneren Auge schwitzte ich dabei erheblich. „Hm“, sagte ich noch einmal zu Sissy, „ich schau amal“, und versuchte, kein Zitronengesicht zu machen.

Ein paar Wochen später stehe ich an einem Samstagabend tatsächlich in einem Seminarraum in Wien, gemeinsam mit ungefähr einem Dutzend fremder Leute. Am Kopfende des Raums sind Sissy und eine große Trommel. Taketina-Anfängerabend. Sissy ist nach unserem ersten Gespräch hartnäckig geblieben. Außerdem hat Nicole, die Chefredakteurin von carpe diem, laut gelacht, als ich ihr von Taketina erzählte, von Regentanz und „Aquarius“ und dass Sissy möchte, dass ich das ausprobiere. „Super Thema“, sagte Nicole. Und: „Unbedingt!“ Und: „Bitte, bitte, ich will, dass du da drüber schreibst!“ Sie betonte das „du“, und ich bilde mir ein, dass sie dabei ein Prusten unterdrückte. Im Übrigen hat Sissy einen Teil meiner Bedenken abgetragen. „Am Anfang kommen sich alle komisch vor bei Taketina“, sagte sie zum Beispiel. „Alle wollen alles richtig machen, und es gelingt niemandem.“ Sie sagte auch:

„Du wirst merken, dass es immer besser gelingt, je weniger du dich bemühst. Diesen Aspekt an Taketina wirst du am meisten mögen, und überhaupt wird es dir viel mehr gefallen, als du jetzt denkst.“

Ich: immer noch ein bisschen Zitronengesicht. Sissy: „Glaub mir.“

Wir beginnen unseren Taketina-Abend in Kreisformation rund um Sissy und die Trommel. „Ta“, „Ke“, „Ti“, „Na“ sagen wir, betonen die Silben „Ta“ und „Ti“, wir klatschen dazu und verlagern das Gewicht von einem Bein aufs andere. Dann sollen wir uns durch den Raum bewegen, dabei weiterhin die Silben vor uns hersagen, in der Art, die man von einem Mantra kennt. Ich glaube fast, dass im Raum nach ein paar Ta-Ke-TiNa-Minuten wie von selbst eine kleine Melodie entsteht, wir sprechen das „Ti“ nämlich einen Hauch höher als das „Ta“ und das „Ke“ und das „Na“. Als hätten die vier Silben ihr Eigenleben, denke ich.

Ich halte das für bemerkenswert, dass Menschen, die einander nicht kennen, sich wie von selbst darauf einigen, gemeinsam aufgesagte Silben mit einer Melodie zu unterlegen, aber ich höre auf zu denken, denn ich bemerke, dass, sobald ich nachzudenken beginne, alles auf einmal viel komplizierter wird. Ich stolpere dann aus dem Rhythmus. Nun sollen wir auf jedes „Ta“ mit jener Person abklatschen, mit der uns gerade ein zufälliger Augenkontakt verbindet.

Wir gehen alle durch den Raum, im Uhrzeigersinn, gegen den Uhrzeigersinn, die Originelleren unter uns beschreiben Achter. Mir begegnet bei jeder meiner Runden dieselbe junge Frau. Ich versuche ihr auszuweichen, vor allem ihrem Blick, ich will ja nicht den Verdacht erwecken, ihre Nähe zu suchen, was soll sie von mir denken?, denke ich, aber dann höre ich wieder auf zu denken, und dann ist mir sogar egal, was die fremde junge Frau von mir denkt. Sie lächelt mich freundlich an, ich lächle freundlich zurück, „Ta“, wir klatschen ab, nächste Runde. Ich höre, wie meine Stimme wie von selbst lauter wird und sich meine Mundwinkel nach oben ziehen. „Ta“! Spaß macht das. Wirklich.

Dass mir alles so viel leichter fällt als erwartet, hat wahrscheinlich damit zu tun, wie Sissy den Abend eröffnet hat. Sie hat über Rhythmus geredet, über Rhythmus an sich, und seither verstehe ich: Wir hampeln hier nicht einfach entlang von beliebigen Rhythmen durch die Gegend, sondern wir klatschen uns Schritt für Schritt und Silbe für Silbe in unser Innerstes vor. Alles, was Leben hat, hat auch Rhythmus, sagte Sissy nämlich, von Herzschlag und Atmung bis Tages- und Jahreszeiten, das morgendliche Öffnen und abendliche Schließen von Blüten, Ebbe und Flut. Wenn man das weiterdenkt, dachte ich, wenn Leben und Rhythmus wirklich zusammengehören, dann schlussfolgern daraus ja Sachen wie: Wer sich einem Rhythmus hingeben kann, kann sich dem Leben hingeben.

Wer in einem Rhythmus aufgehen und mit ihm eins werden kann, kann im Leben aufgehen und mit ihm eins werden. Und umgekehrt. Das nämlich auch. Taketina, sagte Sissy, führt uns ins Innere des Rhythmus, dorthin, wo sich eine Leichtigkeit des Lebens spüren lässt. Dann sagte Sissy noch: Lasst euch einfach drauf ein, habt Spaß, macht Fehler, verhaspelt euch – und, vor allem, erlaubt euch jeden einzelnen Fehler. Je mehr Fehler ihr macht, desto mehr verliert ihr die Angst davor!

Die Abfolgen von Klatschen, Schritten, Silben werden komplexer, die Zahl der Silben wechselt – bis hin zu Ga-Ma-LaGa-Ma-La-Ta-Ki, acht Silben! –, und natürlich entsteht so etwas wie Ehrgeiz, da kannst du noch so sehr Ebbe und Flut und Herzschlag und Lebensleichtigkeit in dir spüren wollen, irgendwann klemmt sich deine Zungenspitze zwischen verkniffene Lippen. Immer wieder gibt Sissy einen neuen Rhythmus vor, du konzentrierst dich, findest rein, ihr Rhythmus wird zu deinem, du hältst ihn ein paar Takte, zuerst angestrengt, dann immer mehr wie von selbst, plötzlich beginnst du – und du spürst das! –, loszulassen und ganz von selbst gemeinsam mit den anderen zu schwingen.

Es ist wie ein müheloses Surfen auf einer unsichtbaren Welle, dann drängelt der Kopf wieder rein, du verhaspelst dich SOFORT, raus aus dem Rhythmus, Pause, wieder Anlauf nehmen, wieder reinkämpfen, loslassen, surfen, wieder Kopf, peng, raus, es ist schon anstrengend auch. Dann machen wir eine Pause, und ich spüre, ehrlich, im Kopf ein Gefühl, als hätte mein Gehirn einen Muskelkater.

„Je weniger du alles richtig machen willst, desto besser wird es dir gelingen“

sagt Sissy in der Pause zu mir. Ich verstehe, was sie meint, und ich finde den ganzen Abend jetzt ernsthaft spannend. „Wie viel tun, wie viel geschehen lassen?“, sagt sie.,

„Das gilt ja für alles im Leben. Lernen, dass sich nicht alles erreichen oder erzwingen lässt, präsent sein und dabei entspannt. Etwas zugleich machen und geschehen lassen. Das sind Pole des Lebens. Sie nähern sich in Taketina einander an. Mit diesen Polen kannst du heute spielen.“

Es gelingen lassen, ohne zu wissen, wer oder was es ist, denke ich, einer Sache so vertrauen, dass sie von selber ins Gelingen findet, das hat was von Lebensweisheit. Ja, sagt sie, du wirst sehen: Es gelingt. Und denk nicht zu viel nach.

Der Abend dauert insgesamt an die drei Stunden, und die letzten eineinhalb Stunden sind fast so etwas wie ein leichter, schwebender Rausch. Es gelingt mir, mich auf den gemeinsamen Rhythmus ein- und Fehler zuzulassen, überhaupt, ich lasse … zu, aus, ab, nach. Die Rhythmen werden komplexer, und sobald alles richtig zu laufen beginnt, wirft Sissy einzelne Silben rein, Stolpersteine, die uns im Rhythmus kurz irritieren. Es ist wie ein Rekalibrieren, das uns frisch hineingrooven lässt in die gemeinsame Welle. Später wird sie sagen, dass manchmal, das merkt sie, der Rhythmus vor lauter Gemachtwerden ganz starr wird, er funktioniert, aber er fließt nicht, „dann muss ich ein bisschen reinschubsen“. Ich bin hier und jetzt, völlig, einfach da, unbefangen, ich bin konzentriert, aber leicht, ich bin ich, in dieser Gruppe, in diesem Raum, in meiner Mitte, ich bin beschwingt. Vielleicht ist es eine gute Idee, sich insgesamt weniger Mühe zu geben.

Gisbert Knüphauser beschäftigt sich als carpe diem-Autor mit medizinischen Themen und deren Grenzbereichen.