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Hingabe an das Leben

„Wir sind heutzutage so in unsere Gedanken verstrickt, dass wir die Realität oft nicht mehr sehen“, sagt Baumkenner Erwin Thoma. „Ein Baum ist ein Lebewesen, das aus dem, was gerade ist, das Beste macht.“ Jedes einzelne Exemplar lehrt uns also, auf den Moment zu achten. „Da gibt es keine Projektionen, sondern es wird zum Thema gemacht, was da ist.“ Das beste Mantra vor dem Schlafengehen:

Ich habe heute wie ein Baum gelebt und aus allem das Beste gemacht.

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„Das ist ein unglaubliches Lebenskonzept, das erleichtert und einen Menschen seelisch gesund hält“, so Thoma.

Akzeptanz der Umstände

Jeder Baum ist anders. Wer bei einem Spaziergang genau hinsieht, stellt fest, dass sie sich nicht nur in ihrer Art, sondern auch in Form und Zustand unterscheiden. Wie wir Menschen. „Wenn man sich diese Lebensgemeinschaft im Wald anschaut, wird man allein stehende Bäume neben jenen finden, die wenig Platz haben oder im Sumpf leben. Keiner von ihnen fragt sich: Was wäre, wenn … Sondern nimmt jede Situation an. Ich empfinde das als sehr entlastend.“

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Das Gesetz der Fülle

„Speziell im Frühling passiert auf Obstbäumen etwas Unglaubliches. Zehntausende Blüten erwachen zum Leben“, weiß Förster Erwin Thoma, der als Betriebswirt auch die Gesetze des Marktes kennt: Wie kann ich mit dem geringstmöglichen Aufwand das Ziel erreichen? „In der Natur sähe das so aus, dass zwanzig Blüten auf den Ästen verteilt werden und zu unterschiedlichen Zeiten blühen, um das Frostrisiko zu minimieren.“

grüner Wald von oben
Die Dinge nehmen, wie sie sind.

Unsplash / Dave iamthedave

Die Natur hat aber anderes im Sinn. Verschiedenste Insekten nähren sich an den Blüten, und sind die Kirschen reif, kommen die Vögel und pecken eine Frucht nach der anderen an. Ineffektiv ist das aber nicht. Die faulen Früchte fallen zu Boden und versorgen dort Lebewesen vom Wurm bis zum Dachs.

Für Thoma ist jeder Baum Stätte ständiger Feierlichkeit. „Er kümmert sich darum, dass es jedem Lebewesen, das vorbeikommt, gutgeht. Das ist ein Konzept der Fülle und nicht des Mangels wie in unserer Wirtschaft.“

Die Kraft der Gemeinschaft

Alles, was ein Baum tut, dient nie ihm allein. Bäume wissen, dass sie die Herausforderungen des Lebens nur in der Gemeinschaft bestehen. „Jeder Baum braucht zum Beispiel Mikroorganismen im Boden, um Nährstoffe herauszuschürfen. Die Wurzel kann das gar nicht“, erklärt Baumkenner Erwin Thoma.

Er nennt das ein arbeitsteiliges System, das funktioniert, weil jeder seinen Beitrag leistet. „Das Miteinander im Wald ist ein radikaler Gegenentwurf zu unserer Ego-Gesellschaft: liebevoll, lebensfördernd und verbunden.“

Das Miteinander im Wald ist ein radikaler Gegenentwurf zu unserer Ego-Gesellschaft

Erwin Thoma, ehemaliger Förster

Geben ist seliger als nehmen

Im Wald gibt es keine im Kopf erdachte Moral, sondern den bereits Jahrmillionen währenden Versuch, zu tun, was das Leben fördert. Für Erwin Thoma hat sich herausgestellt, dass der beste und wirkungsvollste Modus für jeden Einzelnen ist, mit dem Nachbarn gut zurechtzukommen.

Das fängt damit an, dass kein Baum allein einen Sturm aufhält und der, der am meisten gibt, am schnellsten ans Ziel kommt: „Der Saftstrom im Baum zum Beispiel bringt Nährstoffe vom Boden nach oben. Dort wird Zucker produziert, der durch den Stamm wieder nach unten gelangt. Der Baum, der von seinem ‚Goldschatz‘, dem Zucker, am meisten verteilt, gedeiht am besten.“

Ode an die Selbstliebe

Im Gegensatz zur Menschheit kennt der Wald keine Schubladen wie schön oder hässlich, alt oder jung. „Im Wald sieht man, wie Vergänglichkeit positiv gelebt werden kann“, meint Erwin Thoma. Aus seiner Zeit als Förster am Großen Ahornboden im Tiroler Karwendel kennt er eine Weidefläche mit lauter markanten, 500 Jahre alten Ahornbäumen.

„Die waren von Lawinen zerfetzt, vom Sturm abgebrochen und trieben wieder neu aus: lauter Gestalten am Ende ihres biologischen Lebens.“ Genau das ist es, was tausende Besucher, die alljährlich kommen, so an den alten Bäume fasziniert.

„Es zeigt, dass jede Lebensphase gleichberechtigt ist und es sich nicht sagen lässt, eine sei besser als die andere. Wir sind nicht da, um schön zu sein, sondern um eine Reise zu machen, die mit Reifung und Entwicklung zu tun hat.“

Obstbaum in voller Blüte, rosa-weiße Blüten
Wie ein riesiger Blumenstrauß sieht ein Obstbaum in voller Blüte aus.

Unsplash / Amir Hosseini

Der Mehrwert von weniger

Ein Baum käme nie auf die Idee, das für ihn so lebenswichtige Wasser anzuhäufen, denn das wäre sein Tod. Es dient ihm als Gleitmittel, das sein ganzes System von den Wurzeln bis zur Krone versorgt. Das führt zu Wachstum auch im Wald, das so lange positiv ist, solange es in die Rahmenbedingungen passt.

Aber Bäume wachsen nicht in den Himmel. „Im Geschäftsleben geht es oft nur noch darum, eine Bilanz mit der nächsten zu toppen. Das ist auf Dauer destruktiv“, glaubt Erwin Thoma.

„Ich hatte in der Familie viele Handwerker, deren Werkzeuge immer in bestem Zustand waren. Sie hatten aber nicht fünfzig Sägen, sondern eine. So ähnlich ist das auch mit Geld. Es darf nicht das Ziel, sondern muss das Mittel sein.“

Erwin Thoma, 60, baut Vollholzhäuser auf der ganzen Welt. In seinen Büchern vermittelt der ehemalige Förster aus dem Pinzgau Holz- und Baumwissen. Nach „Die geheime Sprache der Bäume“ und „Die sanfte Medizin der Bäume“ ist zuletzt „Strategien der Natur“ erschienen.