carpe diem: Herr Pürzel, warum soll ich meine Muskelkraft trainieren?

Alexander Pürzel: Um die Rollen in Ihrem Leben spielen zu können, die Sie spielen wollen, und das auch in fortgeschrittenem Alter. Wenn Sie merken, dass die Funktionsfähigkeit Ihres Körpers da und dort sinkt, dann fragen Sie sich: Reicht es mir, so zu bleiben, wie ich bin, oder will ich meine muskulären Ressourcen wieder aufbauen?

Wir lange macht das Sinn? Ist der Aufbau von Muskelmasse in jedem Alter möglich?

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Absolut. Es ist nie zu spät, das geht auch noch im hohen Alter. Und: Je mehr Muskeln, desto besser! Tatsächlich gibt es für Alltagspersonen, die nicht in einer Sportart verhaftet sind, die ein niedriges Körpergewicht voraussetzen – wie etwa Marathonlauf oder Geräteturnen – keine Obergrenze der Sinnhaftigkeit von Muskelmasse. Freuen Sie sich über jeden trainierten Muskel. Es existiert ohnehin eine natürliche Grenze, Muskelmasse lässt sich ja in der Regel auch nicht unbegrenzt aufbauen.

Bedeutet mehr Training auch immer mehr Effekt?

Grundsätzlich tendiert die Wissenschaft schon dazu, dass es, zumindest bis zu einem gewissen Grad, eine volumenabhängige Effektivität gibt. Ein bisschen Krafttraining ist besser als kein Krafttraining. Um ganz bestimmte Trainingsziele zu erreichen, braucht es aber ein ganz bestimmtes Trainingsvolumen.

Ein bisschen Krafttraining ist besser als kein Krafttraining.

Alexander Pürzel
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Wie oft muss ich trainieren, um spür- und sichtbare Erfolge zu erzielen?

Das hat nicht zwingend etwas mit der Häufigkeit zu tun, sondern kann auch durch die vermehrte Anzahl von Sätzen innerhalb eines Trainings gelingen. Wenn ich einen Muskel mit mehr Sätzen trainiere, dann reagiert der Muskel auch stärker darauf, sprich, mit mehr Aufbau.

Okay, das motiviert mich. Ein Training pro Woche sollte zumindest machbar sein…

Ja, Kraftsport ist extrem dankbar. Man kann mit so wenig so viel erreichen. Auch ein Training pro Woche bringt etwas, nur eben nicht so viel, wie möglich wäre, wenn Sie öfter pro Woche trainieren.

Was hat abgesehen vom Trainingsvolumen noch Einfluss auf meinen Trainingsfortschritt?

Nicht alle Sätze sind im gleichen Maß muskelaufbauwirksam. Die effizientesten reaktionsauslösenden Sätze sind immer die ersten. Sprich: Der erste Satz bringt etwa 50 bis 60 Prozent der Gesamttrainingswirksamkeit, also gemessen an dem, was überhaupt möglich wäre. Der zweite bringt nur noch 20 Prozent, der dritte 10 Prozent und so weiter. Sprich: Jeder weitere Satz nach dem ersten sorgt zwar für eine Mehrwirkung, bringt aber weniger als der vorhergehende. Man spricht vom sinkenden Grenznutzen. Aber, ganz wichtig: Nur mehr zu machen, das aber im falschen Trainingsrahmen, wäre auch falsch.

Und wie sieht dieser richtige Rahmen aus?

Auch die Intensität des Reizes ist essenziell. Es braucht eine gewisse Last, damit der Muskel überhaupt checkt, dass er sich aufbauen soll.

Welches Gewicht empfehlen Sie?

Es muss so hoch sein, dass Sie, grob gesagt, zwischen vier und 20 Wiederholungen schaffen, bevor Sie am Muskelversagen ankommen. Damit es also tatsächlich zum Muskelaufbau kommt, muss der Ausbelastungsgrad sehr hoch sein.

Ist es angesichts dieser teils sehr individuellen Variablen überhaupt möglich, pauschal Trainingspläne zu erstellen?

Natürlich. Nur, weil etwas individuell ist, heißt das ja nicht, dass eine gewisse Abweichung von der Individualität nicht funktioniert. Wenn zum Beispiel jemand zu mir kommt, von dem ich noch gar nichts weiß, außer, dass er gesund ist und höchstens zweimal die Woche Zeit fürs Training hat, gehe ich beim Erstellen des Plans vom wissenschaftlichen Mittel aus. Ich empfehle ein Ganzkörpertraining, zweimal die Woche – weil das ist tendenziell besser als eines –, und pro Einheit soll jede Muskelgruppe mit vier Sätzen belastet werden. Beim ersten Satz sollen zehn Wiederholungen möglich sein. Sobald diese Wiederholungszahl bei gleicher Last auch bei den Sätzen zwei bis vier möglich ist, wird beim nächsten Mal um den kleinstmöglichen Betrag erhöht. Und so geht es weiter.

Wie lange soll ich zwischen den Sätzen pausieren?

So lange, dass Sie jeden neuen Satz fokussiert absolvieren können. Wenn ich eine Zahl nennen muss, dann würde ich sagen, circa zwei Minuten! Eine Ausnahme sind Supersätze.

Was sind Supersätze?

Dabei wird mit dem Spieler-Gegenspieler-Prinzip gearbeitet, das heißt, dass ich gegensätzlich arbeitende Muskeln gezielt zusammen trainiere. Der Vorteil: Jeder Muskel kann maximal belastet werden, da er frisch und ausgeruht ist.  Wenn ich zum Beispiel meine Arme trainiere, dann mache ich zuerst zehn Wiederholungen für meine Armbeuger (Bizeps) und dann gleich darauf die zehn für die Armstrecker (Trizeps). Erst dann pausiere ich. Das spart Trainingszeit. Für Übungen, die eine große Muskelmasse integrieren, wie etwa Kniebeugen, funktioniert das aber nicht. Da brauche ich nach zehn Wiederholungen immer eine Pause.

Müssen Frauen und Männer eigentlich anders trainieren, um ihre Trainingsziele zu erreichen?

Nein, das würde keinen Sinn machen. Frauen haben vielleicht ein leicht geringeres Anfangsniveau, bevor sie mit dem Training beginnen, die Entwicklung danach ist aber die gleiche. Die Studienlage dazu ist eindeutig. Wenn man also die Ausgangssituation außen vor lässt und sich nur die Vermehrung von Muskelmasse nach Trainingsbeginn ansieht, dann ist die relativ zum Körpergewicht gesehen bei Frauen und Männern beinahe gleich. Frauen können also ähnlich viel Muskelmasse aufbauen wie Männer.

Das ist spannend. Aber es gibt ja noch mehr Unterschiede. So reagieren etwa Frauen je nach Zyklusphase unterschiedlich auf bestimme Trainingsanforderungen.

Natürlich, und darauf gehe ich auch ein. Das tue ich immer, wenn jemand vor dem Training zu mir kommt und sagt, dass er ein Problem oder Schmerzen hat – egal ob es sich um Migräne, Regelschmerzen oder andere Beschwerden handelt. Die Unterschiede, die ich mache, sind aber immer individueller Natur. Das heißt: Ich gehe nicht generell bei Intensitätsvorgaben, Volumenvorgaben, Übungsvorgaben darauf ein. Das bleibt alles gleich.

Geschlechtsspezifisches Krafttraining hat also keinerlei Mehrwert?

Aus rein trainingswissenschaftlicher Sicht und vor allem beim Einstieg in das Krafttraining insgesamt: kaum. Das Geschlecht ändert nichts an der Wirksamkeit eines Trainingsreizes. Dieser wirkt bei uns allen gleich. Im Vorhinein zu planen, dass zwei Wochen so und zwei Wochen so trainiert werden soll, ist wissenschaftlich nicht haltbar, praktisch kaum durchführbar und wäre sogar kontraproduktiv. Innerhalb der zwei Wochen, in denen nach Trainingsplan B trainiert wird, würden nämlich ich die Fähigkeiten, die beim Trainingsplan A auftrainiert wurden, verlorengehen – und umgekehrt.

Das Geschlecht ändert nichts an der Wirksamkeit eines Trainingsreizes.

Alexander Pürzel

Sollte jetzt noch immer jemand daran zweifeln, dass Kraftsport wesentlich zu einem langen, gesunden Leben beiträgt – was würden Sie ihm sagen?

Ich glaube, dass uns allen bewusst sein sollte, was wir mit Widerstand, den wir an unseren Körper setzen, alles erreichen können. Und mit jeder Wiederholung an einem Widerstand bauen wir an Kraftfähigkeit in jedem körperlichen Gewebe auf. Und diese vermehrte Kraftfähigkeit, erlaubt es uns, die Rollen im Leben zu spielen, die wir spielen wollen.

Buchcover Alexander Pürzel

Riva Verlag

Buchtipp:

Wie funktioniert Trainingsplanung eigentlich wirklich? Was müssen Sie als Coach, Athlet oder Athletin beachten, um im Kraftsport Bestleistungen zu erringen? Und wie können Sie den optimalen Weg im Auge behalten und ihn zielgerichtet verfolgen? In seinem Buch "Wie man einen verdammt guten Trainingsplan erstellt" (riva Verlag) klärt Ex-Pro Alexander Pürzel auf. Mehr: www.alexanderpuerzel.com