Wie wir Kraft aus dem Schönen schöpfen
Das Schöne am Schönen ist, dass es so viel mehr ist als nur schön: Es ist ein unversiegbarer Quell an Lebenskraft – auch und gerade dann, wenn es das Leben einmal nicht so gut mit uns meint.

Johannes Hloch
Herr Prof. Musalek, warum ist das Schöne eigentlich so erstrebenswert?
Dr. Michael Musalek: Weil es eine ungeheure Wirkung auf uns hat, nicht nur im Sinne der Anziehungskraft, sondern im Sinne einer Kraftquelle. Einer Kraftquelle, aus der wir jederzeit schöpfen können, ohne dass sie jemals versiegt. Denken Sie an eine schöne Beziehung oder einen schönen Herbsttag, wie stark wir uns da fühlen, wie leicht uns Dinge von der Hand gehen und wie nebensächlich die eine oder andere Sorge plötzlich scheint.
Ja, dieses Gefühl kenne ich. Aber lässt sich dieser gefühlte Kraftschub auch belegen?
Natürlich, allein schon deshalb, weil wir ihn empirisch und unmittelbar erleben, eine größere Beweiskraft gibt es gar nicht.
Würden Sie sagen, das Erleben von Schönem ist gesundheitsfördernd?
Auf jeden Fall, das Schöne wirkt sich ganz stark auf unsere geistige und körperliche Gesundheit aus. Schauen wir uns nur einmal an, wie die WHO „Gesundheit“ definiert: Gesundheit ist nicht nur die Abwesenheit von Krankheit, sondern darüber hinaus ein Zustand völligen körperlichen, psychischen und sozialen Wohlbefindens. Und diesen Zustand erreichen wir – dazu gibt es jede Menge Forschung – einerseits dann, wenn wir weitgehend fähig sind, autonom zu handeln, und andererseits dann, wenn wir ein möglichst freudvolles Leben führen können. Dann empfinden wir unser Leben als schön.

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Je autonomer und je freudvoller wir leben, desto schöner ist unser Leben – und je schöner unser Leben ist, desto gesünder sind wir?
Genau so ist es.
Das klingt attraktiv. Doch kann ich mir noch nichts Konkretes darunter vorstellen. Was ist das Schöne genau?
Diese Frage stellt sich die Menschheit seit zumindest 2.500 Jahren, und letztlich hat noch keiner eine verbindliche oder halbwegs anerkannte Definition des Schönen abgeben können. Jeder spürt sofort, wenn etwas für ihn schön ist, aber was das Schöne ist, ist schlicht nicht beantwortbar. „Ein schönes Mädchen ist schön“, sagt zum Beispiel Hippias auf die Frage von Sokrates, was denn das Schöne sei – und beendet den ganzen Diskurs damit auch schon wieder. Denn: Das, was schön ist, ist per se schön und damit als Urphänomen nicht weiter hinterfragbar.
Gut, aber wonach soll ich denn jetzt Ausschau halten? Ich will ja nicht däumchendrehend darauf warten, dass das Schöne mich findet. Ich will es selbst entdecken und für mich gewinnen.
Natürlich, aber diese Annäherung gelingt nicht über das Was, sondern nur über das Wie. Wie ist das Schöne, wie empfinde ich das Schöne, wie kann ich – noch mehr – Schönes für mich akquirieren? Wie wirkt das Schöne auf mich und in mir, wie verändert es meine Welt – das sind die entscheidenden Fragen, wenn es um die Sozialästhetik des Schönen geht. Dann frage ich: Wie ist das Schöne? Das Schöne ist etwas Unmittelbares. Es ist nichts, worüber wir zuerst nachdenken müssen, es nimmt keine Umwege. Und es kommt in unterschiedlichsten Erlebnisformen auf uns zu, als etwas Angenehmes, Anziehendes, Attraktives, Wunderbares, Begeisterndes oder Faszinierendes.
Das Schöne wirkt sich ganz stark auf unsere geistige und körperliche Gesundheit aus.
Dr. Michael Musalek
Das sind aber sehr unterschiedliche Attribute. Genügt ein einziges davon, um das Schönheitsempfinden zu kitzeln, oder muss von allem was dabei sein?
In Summe brauchen wir von allem etwas, nur eben individuell in unterschiedlicher Intensität. In der Wissenschaft kennen wir zwei Formen von Schönem: das apollinische Schöne, das Harmonische, Ausgeglichene und Wohltuende, und das dionysische Schöne, das Ekstatische, das Berauschende. Wo wir beide im idealen Zusammenspiel erleben, ist in der Musik.
Wie ist das Schöne noch?
Das Schöne, von dem wir hier sprechen, ist tiefenwirksam. Das heißt, dass es sich nicht in oberflächlicher Behübschung, wie Kosmetik oder Dekoration, erschöpft. Es ist nicht nur auf den Schein und dessen Wahrung ausgerichtet, sondern geht viel tiefer. Dieses Tiefenschöne ist in der Lage, uns auf so besondere Weise zu bewegen, und zugleich ist es der Grundstein dafür, dass wir selbst Schönes (er)schaffen – und somit eine schöne, lebenswerte Welt.
Aber lässt sich das so strikt trennen? Kann es nicht zum Beispiel zu einem tiefsinnigen Erleben beitragen, wenn ich es mir zu Hause schön mache – und sei es nur durch etwas Oberflächliches?
Das stimmt schon, alle Kategorien, in die wir die Welt einteilen, sind reine Kunstprodukte. Es gibt also sicher Überschneidungen und Übergänge, aber eine Unterscheidung ergibt trotzdem Sinn, vor allem um nicht an der Oberfläche haften zu bleiben und in die Tiefen des Schönheitserlebnisses vorzudringen zu können.
Bedeutet diese Unterscheidung nicht auch eine Wertung?
Nein, denn vom Erleben her ist es einfach nicht gleichzusetzen. Im einen Fall verändert das Schaffen von Schönem nichts. Ornamente, zum Beispiel, machen einen guten Eindruck, verändern aber das Gebäude nicht. Tiefenschönes hingegen bewegt uns, öffnet unser Innerstes für das Genussvolle. Wegen eines schönen Lippenstiftes ist noch niemandem das Herz aufgegangen, ein tiefgründiger Blick zur rechten Zeit vermag das aber sehr wohl.

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Langsam kommen wir dem Schönen auf die Spur, also gleich weiter mit der nächsten Wie-Frage: Wie kann ich mich für das Schöne so begeistern, dass es in letzter Konsequenz mich begeistert?
Eine ganz wichtige Voraussetzung dafür ist, im Hier und Jetzt zu sein. Viele vergessen in ihrem Erleben leider auf die Gegenwart. Sie leben entweder dauernd im Entwurf oder dauernd in der Vergangenheit. Leben und erleben können wir aber nur in der Gegenwart, das geht gar nicht anders. Das wusste schon Augustinus, einer der ganz großen Denker des frühen Christentums. Jeder, der schon einmal Hals über Kopf verliebt war, weiß, was ich mit diesem Ganz-in-der-Gegenwart-Gefühl meine. Da bleibt einfach die Zeit stehen.
Ja, das ist wahr. Und zu dieser Empfindung, die wir im Verliebtheitszustand haben, können wir auch im Schönheitserleben gelangen? Jeder von uns?
Ja, wir alle sind gleichsam zum Schönen geboren. Jeder, der dazu bereit ist, die Brille der Ästhetik aufzusetzen, also die Welt aus einer ästhetischen Perspektive zu betrachten, kann den Zustand erreichen. Wenn ich etwa über eine Wiese gehe, kann ich mir denken, dass der Wind kalt ist und viele Wespen unterwegs sind. Oder ich kann ein paar Grashalme abreißen, sie zwischen den Fingern zerreiben und daran riechen. Die Wiese bleibt die gleiche, das Erleben ist aber ein diametral anderes.
So weit alles klar. Dann vergewissere ich mich, dass meine ästhetische Brille richtig sitzt, bleibe im Hier und Jetzt und halte mich bereit. Wie geht’s jetzt weiter?
Jetzt geht es darum, diesen Willen zum Schönen, der offensichtlich da ist – wenn auch noch sehr banal und rudimentär –, zu kultivieren. Dazu müssen Sie Dinge nur aufmerksam betrachten, sie auf sich wirken lassen. Wie ist die Form, die Oberflächenbeschaffenheit, der Geruch? Dann fragen Sie sich, was das mit Ihnen macht: Wie fühlt es sich an? Fühlt sich dieser Ammonit (liegt auf Prof. Musaleks Schreibtisch; Anm.) anders an als dieses Handy? Wie unterscheidet sich das eine vom anderen – und vor allem: Was mögen Sie lieber, was ist für Sie schöner? Auf das, was Sie lieber mögen und schöner finden, lassen Sie sich wirklich ein.

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Und dann ist es endlich so weit: Das Schöne beschenkt mich?
Ja, dann ist es so weit: Das Schöne beschenkt Sie – oder es beschenkt Sie nicht.
Wirklich? Obwohl die Voraussetzungen ideal waren und ich alles dafür getan habe, um das Schöne anzulocken, packt es mich am Ende vielleicht gar nicht?
Das passiert uns allen immer wieder. Mit der völligen Hingabe zu einem Menschen oder einer Sache endet nämlich jede Kontrolle. Sobald es um das Genießen geht – das ist die höchste Spielstufe und zugleich tiefste Form des Schönheitserlebens, die wir anstreben –, haben wir die Sache nicht mehr in der Hand.
Verstehe ich das richtig: Der Weg hin zu dieser Sinneserfahrung ist über weite Strecken ein sehr aktiver Prozess. Auf der letzten Etappe sind wir dann aber nur noch Beifahrer?
Genauso ist es. Das Machen ist in diesem Prozess zunächst ganz wesentlich, ohne Machen geht beim Schönen gar nichts. Es reicht nicht, sich die Welt schönzudenken. Es reicht nicht, nur zu überlegen, was man machen könnte. Man muss es auch tun. Sei es, ein schönes Musikstück zu hören oder mit einem Menschen, den man mag, Zeit zu verbringen. Es geht darum, sich zu entwickeln und zu entfalten, das Mögliche möglich zu machen. Nur so haben wir überhaupt die Chance, ins Genießen zu kommen, um dann wiederum selbst Schönes in die Welt zu tragen.
Dass es dann aber auch so in die Hose gehen kann, finde ich vor allem vor dem Aspekt des Machens ziemlich unfair.
Das ist verständlich, aber böse zu werden und sich zu fragen: „Warum alle anderen und ich nicht?“, wäre der Kardinalfehler.
Es reicht nicht, sich die Welt schönzudenken.
Dr. Michael Musalek
Was raten Sie stattdessen zu tun?
Sich immer und immer wieder darauf einzulassen. Ich, zum Beispiel, hab im ersten Corona-Lockdown damit begonnen, den Bezirk, in dem ich seit nahezu vierzig Jahren meine Ordination habe, neu zu entdecken. Ich war jeden Tag eine Stunde spazieren. Dabei sind mir immer mehr architektonische Highlights aufgefallen, an denen ich früher achtlos vorbeigegangen war. Das hat mich fasziniert, und bald waren diese Spaziergänge so schön für mich, dass ich nicht mehr auf sie verzichten will. Noch heute sind sie ein wichtiges Ritual.
Sie wurden vom Schönem am Ende also tatsächlich beschenkt …
Ja, und meine Frau obendrein: Sie kriegt seither nämlich jeden Abend einen entspannten Mann, der seinen Arbeitstag nicht zum Essen mitbringt, sondern ihn schon vorher an einer Ecke am Weg liegen gelassen hat.
Das klingt wirklich schön …
Nein, das ist schön! Und wenn etwas schön und gut ist, wollen wir bekanntlich mehr davon.
Wie kann ich mein Schönheitsempfinden denn noch vermehren?
Indem Sie potenzielle Schönheitsfelder ausweiten, sich also auf noch mehr Neues einlassen. So schaffen Sie noch mehr Gelegenheiten, Schönes zu entdecken.
Das klingt aber jetzt irgendwie nach „Hopping“. Ein bisschen da, ein bisschen dort …
Nein, ganz und gar nicht. Aber wir müssen ja zuerst Verschiedenstes ausprobieren, um zu wissen, was davon für uns überhaupt passt. Dieses Dranbleiben ist in jedem Fall sinnvoll – einerseits, um Schönes zu vermehren, andererseits, um auch die eigene Empfindungsfähigkeit zu trainieren. Und in jedem Fall ist es wichtig, sich Zeit dafür zu geben. Das Schönheitserleben braucht Zeit, das geht nicht im Vorbeigehen.

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Okay, und was mache ich, wenn es einfach nicht sein soll? Wenn ich mein persönliches ultimativ Schönes längst als solches erkannt und erfühlt habe, ich aber einfach Pech habe und es niemals kriegen kann? Wie schlage ich mir das dann ein für alle Mal aus dem Kopf?
Gar nicht, das würde nicht funktionieren, ein emotionales Downgrading ist uns nämlich ganz und gar unmöglich. Das ist ein psychologisches Gesetz.
Sie meinen, wir können etwas zwar kognitiv entwerten, diese Entwertung so aber nicht empfinden?
Ja, weil das Gefühl nicht mitgeht. Das kennt vermutlich jeder, der schon einmal eine Beziehung mit unschönem Ende erlebt hat, wenn man massiv enttäuscht wurde. Dann weiß der Kopf genau, dass der oder die andere kein Verlust ist, das Herz kommt meist aber erst viel, viel später zu dieser Erkenntnis.
Aber das ist doch schwer auszuhalten.
Die einzige Möglichkeit, die wir hier haben, ist, etwas anderes upzugraden. Also andere Dinge für so wichtig und schön zu erachten, dass das vorher so hoch bewertete auf diese Weise an Wertigkeit verliert und ganz automatisch vom obersten Platz verdrängt wird. Niemand wird sein Leben lang auf die drei wichtigsten Dinge in seinem Leben verzichten können, das ist utopisch, aber jeder von uns kann es schaffen, auf das Zwanzigstwichtigste in seinem Leben zu verzichten. Das ist das Geheimnis. Da gilt es, hinzukommen.
Und um an diesen Punkt zu gelangen, braucht es wieder dieses Ausprobieren, dieses Sich-Einlassen. Den Willen, sein Leben mit Schönem aufzufüllen …
Ja, ich rate aber prinzipiell jedem – egal in welcher Situation er sich gerade befindet –, sich selbst immer wieder einmal zu fragen, ob diese Werte, die er lebt, noch die Werte sind, die er leben will. Ob diese Werte überhaupt noch attraktiv für ihn sind. Das kann alles sein: der soziale Status, das Arbeitspensum, der Umgang mit Menschen. Unser Wertesystem ist nämlich nicht in Stein gemeißelt, wir können daran schrauben, wenn wir es wollen.
Und wenn ich mich gerade in einer Situation befinde, die nicht nur nicht schön ist, sondern sogar richtig scheußlich? Da hab ich weder Lust noch Kraft, neue Dinge auszuprobieren oder mich sonst irgendwie an die Fersen des Schönen zu heften. Wie kann ich es trotzdem wiederfinden?
Da kann ich Ihnen nur raten, der Scheußlichkeit ins Auge zu blicken und sie genau so anzunehmen. In solchen Situationen wäre es absolut verkehrt, Dinge übertünchen oder beschönigen zu wollen, sich Sätze wie „Eigentlich ist eh alles nicht so schlimm“ einzutrichtern. Schlimmes ist einfach schlimm und nichts weiter.
Hui. Ich hoffe, da kommt jetzt aber noch irgendeine positive Wendung …
Ja, aber diese Wendung kann jeder nur selbst vollziehen. Nicht, indem er sich fragt, wie er Scheußliches schön machen kann, sondern genau umgekehrt. Indem er sich fragt, wie er diese negative Kraft, die hier vorhanden ist, in eine positive Kraft ummünzen kann. Friedrich Nietzsche hat dafür die Maxime „Amor fati“ geprägt, das heißt übersetzt „Liebe zum Schicksal“, und er hat damit das negative Schicksal gemeint. Ich liebe also mein negatives Schicksal, weil es mich aufrüttelt, weil es mir eine neue Perspektive gibt.
Das ist so etwas wie die tiefschürfende Variante des Kalenderspruchs „Jede Krise birgt auch eine Chance“, oder?
Ja, das kann man so sehen. Der deutsche Philosoph Christoph Türcke hat dieses Konzept einmal mit einem Judogriff verglichen: Beim Judo geht es ja darum, dass einer den anderen zu Boden werfen will und dafür große Kraft aufwendet. Der Kniff ist es, diese Kraft des Gegners in den eigenen Wurf zu übernehmen. Ich würde da sogar noch einen Schritt weitergehen und meinen, das Ziel ist nicht nur, zu kompensieren und die Krise zu überwinden. Es geht darum, aus genau diesem negativen Schicksal etwas Neues, etwas Schönes zu schaffen, von der Scheußlichkeit am Ende des Tages sogar noch zu profitieren. Und umso schöner ist es dann. Dann können wir zu Recht sagen, wir leben ein schönes Leben – das Leben ist herrlich!

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