Wabi Sabi: Zuhören mit den Augen
Jeder Ort, jeder Stein, jedes Stück Holz trägt die Geschichte seiner Entstehung in sich. Diese zu erkennen schenkt uns Zuversicht, Ruhe – und eine kleine Lektion in Sachen Zen-Buddhismus. Probier’s einmal aus.
Die Welt ist schön. Besonders dort, wo sie Ecken und Kanten hat. Denn dann erzählt sie uns die besten Geschichten.
„Genau deshalb werden für japanische Zen-Gärten alte Steine ausgesucht. Steine, die eine gewisse Patina haben, durch die ihre Geschichte spürbar wird“, erklärt die Meditationslehrerin Giulia Tamiazzo. „Die Unebenheiten, das Imperfekte – das ist es, was die Schönheit hier ausmacht; nicht das Glattgeschliffene, bei dem man nie eine Veränderung sieht. Das Japanische kennt auch einen Begriff dafür: Wabi Sabi – die Wahrnehmung einer nicht perfekten Schönheit.“
Wabi Sabi stammt aus dem Zen-Buddhismus und ist ein ästhetisches Prinzip, das sich quer durch die japanische Kultur zieht – von der Teezeremonie bis zur Keramik. Insbesondere in der Meditation hilft es uns, die Schönheit um uns zu entdecken und die Welt im Kontext ihrer gelebten Momente zu sehen.
Nein, wir suchen nicht den Fehler im Perfekten, sondern das Perfekte im vermeintlichen Fehler.
Etwa: Wie kam die Maserung in den Stein? Und nur um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Nein, wir suchen nicht den Fehler im Perfekten, sondern das Perfekte im vermeintlichen Fehler. „Wir tragen alle ein Streben nach Perfektion in uns“, sagt Giulia Tamiazzo. „Aber wenn wir uns auf die Risse besinnen, die Imperfektionen, die mit dem Leben unweigerlich mitkommen, wenn wir daran denken, wie uns das geformt hat, welche Stärke es uns gibt, dann können wir ihnen mit ganz anderer Wertschätzung begegnen.“
Und plötzlich sind wir mittendrin in einer Achtsamkeitsmeditation… Denn ob Zen oder westliche Praxis, die Intention der Meditation ist immer dieselbe: Wir zwingen unseren wild hüpfenden Geist, in der Gegenwart zu bleiben. „Wenn wir uns immer wieder Zeit nehmen, nur eine Sache ganz genau zu beobachten, verändern wir unsere Gehirnstruktur so, dass die Reize anders wahrgenommen werden – nämlich nicht als Stressoren, sondern zunächst einmal wertfrei, bis die Information an die Großhirnrinde weitergeleitet und in Ruhe verarbeitet wird.“
Kurz: Die Zeit zwischen Reiz und Reaktion verlängert sich, wir werden gelassener – auch wenn Imperfektionen, Kanten und Patina die Geschichte(n) unseres Lebens erzählen (oder gerade dann).
Fachliche Beratung: Giulia Tamiazzo, Meditationslehrerin im retreat-vienna.com