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Die sogenannte „Alleinzeit“ ist unabdingbar für persönliches Wachstum und Entwicklung, stärkt die Fähigkeit zur Selbstreflexion und ist ein wichtiger Baustein dafür, sich zu einer unabhängigen Persönlichkeit zu entwickeln. Aber viele junge Menschen verlieren die Fähigkeit, Dinge allein zu unternehmen. Für die Psychologin Mag.a Christina Beran hängt das neben der Zäsur durch Corona auch mit Digitalisierung und Sozialen Medien zusammen. Sie plädiert dafür, „Analoge Fähigkeiten“ als Unterrichtsgegenstand einzuführen.

Vor der ausgeprägten Digitalisierung ist man rausgegangen, hat gemeinsam die Welt erkundet und peu à peu herausgefunden, wer man jenseits der Familie ist.

Für das soziale Lernen ist Gemeinschaft ein entscheidender Faktor – zuerst in der Familie, dann im Umgang mit Gleichaltrigen, in sogenannten Peer Groups: „Bei der Entwicklung vom Kindsein zum jugendlichen Menschen ist dieser Schritt weg von den Eltern hin zu den sogenannten Peers ein ganz wichtiger“, sagt auch Psychologin Beran: „Da erzieht man sich, wenn man so will, gegenseitig. Vor der ausgeprägten Digitalisierung ist man rausgegangen, hat gemeinsam die Welt erkundet und peu à peu herausgefunden, wer man jenseits der Familie ist.“ Dem muss aber ein nächster Entwicklungsschritt folgen, nämlich sich auf die Frage einzulassen: Wer bin ich, wenn ich außerhalb meiner Peer Group bin? Vor diesem Schritt schrecken viele zurück, obwohl er für die Entwicklung ein besonders wichtiger ist: „Das geht damit einher, wie es sich anfühlt, Emotionen auszuhalten. Es ist unangenehm, vielleicht aber auch aufregend, die ganze Bandbreite der Emotionen und Gefühle zu erleben und damit umzugehen“, erklärt Christina Beran.

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Für sie war Corona eine große Zäsur, weil viele junge Menschen diesen ersten Entwicklungsschritt durch die Lockdowns verpassten – nämlich sich mit ihren Peers zusammenzuschließen. Stattdessen mussten sie zu Hause bleiben, zusammen mit der Familie, aus der sie sich möglicherweise gerade heraus entwickeln wollten. Psychologin Beran dazu: „Im Gemenge mit den Errungenschaften der Digitalisierung, also allem, was in den sozialen Medien abgeht und wie die wirken, hat sich etwas verändert.“ Nämlich auch die Art, den wichtigen zweiten Lernschritt zu setzen, „Alleinzeit“ außerhalb der Peer Group zu verbringen. Wenn sich heute zum Beispiel auf Instagram unter dem Hashtag #ichtraumich eine Bewegung formiert, die auf diese Weise der Angst davor entgegentritt, etwas allein zu unternehmen, sieht das die Psychologin mit gemischten Gefühlen:

„In den sozialen Medien geht es um Wirkung, und das ist ja nicht das analoge Erleben. Wenn ich mich wo hinsetze, ein Foto von mir mache und das dann poste, habe ich ja noch lange nicht erlebt, was man so braucht, um Dinge allein zu unternehmen. Also herauszufinden, wie es sich anfühlt, die Welt von innen nach außen zu betrachten und nicht sich mit den Augen der Welt anzuschauen.“

Furcht vor der „Verlierer-Aura“

In ihrer Studie „Inhibited from Bowling alone“ hat die amerikanische Sozialpsychologin Rebecca Ratner von der University of Maryland die Angst davor, Dinge allein zu unternehmen, im Jahr 2015 genauer untersucht. Sie hat dabei herausgefunden, dass Menschen vor allem „hedonistische“ Aktivitäten wie Kino- oder Restaurantbesuche oder Tanzen ungern allein setzen, weil sie das mit einer „Verlierer-Aura“ verbinden.

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Beim „Dinner for one“ vergeht einem schnell der Appetit, wenn man sich dabei als Loser fühlt, der es nicht geschafft hat, eine Begleitung aufzutreiben.

Die Berliner Kulturwissenschaftlerin Sarah Diehl, Autorin des Buches „Die Freiheit, allein zu sein“, unterstrich das in der „Neuen Zürcher Zeitung“: „In unserer Gesellschaft wird uns dauernd suggeriert, dass wir in bestimmte Rollen passen müssen, um glücklich zu sein.“ Wenn man dann zum Beispiel weiß, dass bei den Kartenautomaten einer großen Kinokette die Standardeinstellung „2 Tickets“ ist, scheint sie damit nicht unrecht zu haben.

Dabei ist es in Wirklichkeit viel mehr Chance als Versagen, allein loszuziehen. Chance auf persönliches Wachstum, Gelegenheit zur Selbstreflexion – und fast immer eine gute Möglichkeit, wertvolle Erfahrungen zu sammeln. Noch einmal Sarah Diehl dazu:

„Allein unterwegs sein, heißt auch oft, nach Hilfe zu fragen. Dabei zeigt es sich immer wieder, wie großartig Menschen sind. So lässt sich ein gewisses Grundvertrauen immer von neuem erleben und üben.“

Alleinzeit schafft Selbstvertrauen

Psychologin Christina Beran wünscht sich einen Unterrichtsgegenstand „Analoge Fähigkeiten“ an den Schulen, um junge Menschen zu unterstützen. Denn sie ortet einen starken Einfluss der sozialen Medien auf die diesbezüglichen Schwierigkeiten junger Menschen: „In der Pubertät ist die Unsicherheit eh schon so groß. Wenn ich dann mit allen Filtern und sehr viel Zeit für das richtige Foto arbeite, und dann bin ich mit der Realität konfrontiert und stelle einen großen Unterschied fest, wird das nicht leichter. Man hat vor der industriellen Revolution an den Schulen sicher keinen Turnunterricht gebraucht, danach aber schon. Da gab es den körperlichen Bewegungsmangel, und jetzt, während der digitalen Revolution, haben wir vielleicht eine Art analogen Bewegungsmangel.

Sie hat die Befürchtung, dass junge Menschen durch das reine Abbilden von „Erleben“ gar nicht mehr in ein wirkliches kommen: „Das Schlimme daran ist: Das macht nicht satt. Und wenn man es nicht schafft, Zeit allein zu verbringen, hat das etwas von einer Abhängigkeit, das heißt, es geht auf Kosten der Unabhängigkeit und Autonomie – also von Dingen, die junge Menschen eigentlich anstreben.“ Deshalb macht sie Mut, den Schritt in „Alleinzeit“ zu setzen:

„Wir haben ein Sicherheitsbedürfnis, aber auch eines nach Weiterentwicklung und Befriedigung von Neugierde. Am besten tritt das gemeinsam auf. Dass ich mich sicher genug fühle, um meine Nase bei der Tür hinauszustrecken und neugierig genug, ein gut geplantes Wagnis einzugehen. Da lerne ich Frustrationstoleranz, Geduld und komme in den Bereich Selbstwirksamkeit und Selbstvertrauen. Das ist nach wie vor unschlagbar.“

Zur Expertin:

Mag.a Christina Beran ist klinische und Gesundheits-Psychologin in Wien, Vizepräsidentin des Berufsverbandes Österreichischer Psycholog:innen (BÖP) und unter anderem Expertin für Evolutionspsychologie.