Donovan, der Weise und seine bunte Lebensgeschichte
Es geht mehr, wenn man denkt. Von einem älteren Herrn mit bunter Lebensgeschichte lernt Waltraud Hable, dass man sogar ohne Geld und per Anhalter in die Karibik reisen kann – sofern man nicht aufhört, freundlich Hallo zu sagen.
Er ist mir sofort aufgefallen. Wo ich auch hinkam, Donovan war schon da. Immer drei, vier Jahrzehnte älter als alle anderen Anwesenden. Und immer wie aus dem Ei gepellt – die weiße Hose fleckenlos, das Hemd gebügelt.
Bei einem Seminar zum Thema „Freude und Dankbarkeit“ begegnete ich ihm zum ersten Mal. „Mein Name ist Donovan, und ich bin glücklich und gesund“, stellte er sich der Gruppe vor. Tage später sah ich ihn bei einem Event der Start-up-Szene wieder. Und dann bei einem Pub-Quiz, am anderen Ende der Stadt. Wir warteten beide vor dem Lokal und kamen ins Plaudern.
Wobei, plaudern beschreibt die Sache zu wenig. Während die Umstehenden sich lose übers Wetter und ihre Wochenendpläne austauschten, ließ Donovan – der freundliche, ältere Herr – eine Weisheit nach der anderen vom Stapel. Ich erfuhr etwa, dass man ohne Geld und per Anhalter in die Karibik reisen kann, und bekam eine Lektion in Sachen menschliche Existenz.
„Für mich heißt Leben, Verantwortung zu übernehmen“, sagte Donovan. „Das Wort responsibility besteht aus gutem Grund aus zwei Begriffen, nämlich aus response (Antwort) und ability (Fähigkeit). Es geht also um nicht weniger, als auf die Ereignisse des Lebens fähig zu antworten.“
Dieser Satz bewegte etwas in mir. Weil er so simpel war, und so wahr.
Bei der nächsten zufälligen Begegnung eröffnete ich ihm: „Donovan, wir müssen reden! Ich will deine Geschichte hören.“ Er lächelte, als hätte er nur darauf gewartet, und sagte dann mit festem Blick: „Meine Antwort lautet: Ja!“
Wer ist dieser Mann? ‚Donovan, ich will deine Geschichte hören‘, sage ich. Er antwortet, als hätte er nur darauf gewartet: ‚Ja.‘
Das Leben mit Leben füllen
Wenn man über einen Typen schreibt, der 74 Jahre alt ist und sein Leben großteils danach gelebt hat, dass ihm das Unbekannte näher ist als das Vertraute, dann steht man schnell vor der Herausforderung: Wo beginnt man zu erzählen? Startet man in Oklahoma City, wo er geboren wurde? Erwähnt man Donovans Zeit als US-Soldat in Korea? Seine beiden Ehen, die zwei erwachsenen Kinder und fünf Enkelkinder? Seine vielen Reisen? Oder das Haus, das er baute und auf dessen Grundstück er auch gleich einen See ausheben ließ, um darauf Wasserski zu fahren, am liebsten nackt?
Erzählt man, dass er schon Coaching-Seminare besucht hat, als es das Wort Coaching noch gar nicht gab, und dass er viele Jahre als Auktionator arbeitete? (Unter seinen Hammer kamen Häuser, Antiquitäten, Kunst und sogar Düsenflugzeuge.)
Oder zoomt man ins Hier und Jetzt und berichtet, dass Donovan seit über einem Jahr in einem Wohnmobil lebt? Sein Wagen steht auf dem Parkplatz des großen mexikanischen Badeorts Playa del Carmen. Rundherum finden sich Restaurants, Livemusik, Straßenlärm.
Es gäbe idyllischere Plätze, aber er will es so. „Ich hätte genug Geld für eine Wohnung oder für ein Haus, ich beziehe eine stattliche Pension“, erzählt er. „Aber im Wohnwagen kann ich flexibel sein – und ich brauche von hier nur fünf Minuten zu Fuß zum Strand. Außerdem treffe ich mitten im Zentrum viele Leute, ich komme immer mit jemandem im Gespräch.“
Der Plan lautete, per anhalter in die Karibik zu reisen. Do die ersten Piloten, die er fragte, winkten alle ab.
Es könnte ja auch toll werden
Steigen wir aber vielleicht mit jener Eigenschaft ein, die Donovan meiner Meinung nach am besten auszeichnet – nämlich seiner Neugier aufs Leben. Und dass er nach dem Grundsatz lebt, dass unsere Existenz eine blanke Leinwand ist – und es an uns liegt, diese mit Erlebnissen zu füllen.
Donovan liebt es, Dinge auszuprobieren, bei denen andere mit „Das geht nicht“ abwinken. Für ihn beginnt es dann erst richtig interessant zu werden – weil er sich immer fragt: Was, wenn es doch klappt? Und vielleicht sogar richtig gut wird?
Per Anhalter in die Karibik zu reisen – das war so eine Idee. Mit Anfang fünfzig fiel ihm zu Hause die Decke auf den Kopf. Donovan war seit drei Jahren Witwer, brauchte eine Herausforderung, einen Tapetenwechsel.
Sein Plan lautete: Ich werde in die Karibik reisen, aber ich werde kein Geld für den Transport ausgeben, sondern nur für Essen und Unterkunft.
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Warum? Die Frage müsste eher lauten: Warum nicht?
Jedenfalls: Die Tasche war schnell gepackt, die Tür hinter ihm abgeschlossen – und Donovan stellte sich mit ausgestrecktem Daumen an die Straße, um zum nächsten Flughafen zu kommen. Es regnete an diesem Tag, und manche Fahrer nahmen ihn nur für ein paar Kilometer mit.
Nicht die besten Voraussetzungen, aber das bisschen Gewitter sollte ihn nicht abhalten. Am Airport angekommen, marschierte er schnurstracks zur Piloten-Lounge. „Wie wusstest du überhaupt, wo dieser Bereich ist?“, will ich wissen.
Donovan sieht mich verwundert an. „Na ja, du fragst einfach: Wo ist die Piloten-Lounge?“, sagt er. „Und dann gehst du dahin.“ Ah ja. Erklärender Nachsatz: „Das war vor 9/11. Mittlerweile gibt es wahrscheinlich striktere Sicherheitsbestimmungen, aber ich bin überzeugt, irgendwie käme man auch heute noch rein.“
Im Pilotenbereich merkte Donovan schnell: Plan A würde nicht funktionieren, denn sein mitgebrachtes Schild „Hitchhiking to the Caribbean“ wurde ignoriert. Also Plan B. Das hieß: Er sprach die Kapitäne direkt an. Seine Vorgehensweise war dabei immer dieselbe. Grüßen. Freundlich in Erfahrung bringen: Fliegen Sie heute noch raus – und wenn ja, nach Norden oder nach Süden?
„War jemand in die richtige Richtung unterwegs kam mein wichtigster Satz, nämlich: Ich befinde mich auf einer Mission – und will per Anhalter in die Karibik reisen. Nehmen Sie mich ein Stück mit?“ Das Wort „Mission“ ließ zumindest aufhorchen. Aber trotzdem winkte einer nach dem anderen ab. Geht nicht. Kann nicht. Will nicht. Darf nicht.
„Und da wolltest du nie das Handtuch werfen?“, frage ich. Die vielen Neins lassen mein Ego schon beim Zuhören leiden. „Auch wenn du hundertmal ‚Nein‘ zu hören bekommst – du brauchst nur ein Ja, und es geht weiter“, sagt Donovan und dass schließlich ein Flugkapitän einwilligte, ihn nach North Carolina mitfliegen zu lassen. Von dort ging’s weiter nach Florida und mit einem kleinen Frachtflieger auf die Bahamas.
„In Summe war ich zwei Wochen unterwegs und war dabei auf fünf karibischen Inseln. Mitgenommen haben mich fünfzig Autos und Pick-up-Trucks, ein tonnenschwerer Laster und neun Flieger.“ Auf dem letzten Eiland, in der Dominikanischen Republik, nachdem er in einem Luxusresort eingecheckt hatte, schaute er aufs Meer und hatte plötzlich das Gefühl: Es reicht.
Der Reiz des Neuen war verflogen. „Also habe ich kurzerhand ein Flugticket zurück nach Dallas gekauft.“ Das Universum belohnte Donovan mit einem Upgrade in die erste Klasse, ohne Aufzahlung. Darüber freut er sich heute noch.
Was er aber eigentlich von der Sache mitgenommen hat: „Es findet sich immer ein Weg, wenn man nach einem sucht. Und es gibt viele Möglichkeiten, ohne Geld die Welt zu bereisen. Vor ein paar Jahren bin ich mithilfe der Website findacrew.net zu den Turks- und Caicosinseln gereist. Dort kann man sich mit Bootsbesitzern und Skippern verbinden. Letztlich hat die Chemie mit dem Bootsbesitzer nicht gestimmt, aber es war trotzdem eine Erfahrung.“
Das Leben ist eine weiße Leinwand – und es liegt an uns, diese zu gestalten. Wie wir die einzelnen Momente erleben wollen, ist eine bewusste Entscheidung.
Keine Kritik, an niemandem
Wenn man mit Donovan spricht, fällt nicht nur die Ruhe auf, mit der er durchs Leben geht, sondern auch, dass er nicht wertet. Er verurteilt weder Personen noch Geschehnisse.
Als ich mich einmal bei ihm darüber beschwere, dass ein Seminar, das wir gemeinsam besucht haben, nicht das versprochene Programm lieferte, sagt er nur „Ja ...“ und lächelt. Zuerst will ich seine stoische Gelassenheit damit erklären, dass er die Sache wahrscheinlich von seiner Mutter geerbt hat – einer Frau, die 103 Jahre alt wurde und von der er in höchsten Tönen spricht, weil sie so eine Euphorie fürs Leben und für die Menschen hegte.
Aber je länger wir uns unterhalten, desto mehr wird klar: Seine Positivität ist kein angeborener Charakterzug. Sie ist eine bewusste Entscheidung. „Pass bitte auf, dich nicht finanziell ausnutzen zu lassen“, sage ich, als Donovan mir erzählt, dass er einer jungen Frau, die er am Strand getroffen hat, fünfzig Dollar gegeben hat. Angeblich hat ihr Exfreund ihr Hab und Gut gestohlen.
„Keine Sorge, ich bin erwachsen“, bekomme ich auf meine Skepsis zu hören. Und: „Wenn du nichts Positives zu einer Person oder einer Situation beizutragen hast, dann sag besser gar nichts.“ Bumm. Verbale Abwatschung. Meine Wangen laufen rot an. „Ich hab’s nur gut gemeint“, stammle ich. „Ja“, sagt Donovan. Ruhig, freundlich.
Um mir zu einem späteren Zeitpunkt zu erklären, dass ein Buch, das er mit 28 in die Finger bekam, seine Einstellung zum Leben geprägt hat: Er versucht seit Jahrzehnten nach den Prinzipien von „Wie man Freunde gewinnt“ von Dale Carnegie zu leben.
Letzterer war in den USA der 1930er und 1940er Kommunikationstrainer und Vorreiter des Positiven Denkens.
Im Wesentlichen lassen sich dessen Weisheiten so zusammenfassen:
Lächle.
Sei ein guter Zuhörer.
Gib anderen Menschen ehrliche Anerkennung.
Gewinne einen Streit, indem du ihn vermeidest.
Aber die erste und wichtigste Regel für Donovan ist: Keine Kritik. An nichts und niemandem.
„Geht so was überhaupt?“, werfe ich ein. „Wenn du dich dafür entscheidest, ja.“ Kurze Pause. „Wenn ich eine Person nicht mag, dann sage ich mir als Erstes: Stopp. Denn meine schlechten Gedanken sind weder mir noch dem anderen dienlich. Stattdessen zwinge ich mich, darüber nachzudenken: Was macht diese Person, die ich nicht ausstehen kann, eigentlich wertvoll? Irgendetwas findet sich letztlich immer. Ich erkenne dann vielleicht, dass der andere ein guter Vater oder ein guter Geschäftsmann ist. Das macht es leichter, die Kritik abzustellen.“
Als er wieder Luft holte, um seine Frau zu retten, sank das Flugzeug im Wasser. Seine große Liebe wurde nur 27 Jahre alt.
Der Verlust der großen Liebe
Diese Weisheit habe ihm oft geholfen – auch um den eigenen inneren Scharfrichter zum Schweigen zu bringen. Und der war durchaus aktiv, denn Donovan hatte auch Zeiten, die man sich gar nicht vorstellen will.
Seine zweite Frau Mylinh – sie war mehr als zwanzig Jahre jünger als er, die beiden hatten nach viereinhalb Monaten Beziehung geheiratet – starb am Valentinstag 1998 bei einem Flugzeugabsturz. Ein Crash, von Donovan verschuldet, weil er als Pilot des Leichtflugzeugs zu nah übers Wasser flog.
Er selbst konnte sich aus der Maschine befreien. Als er untertauchte, um Mylinh zu retten, sah er ihre frisch manikürte Hand, die kleine Wunde an der Stirn und dann ... nichts mehr. Der Flieger sank zu schnell, und seine große Liebe, die nur 27 Jahre alt wurde, war für immer weg.
Im selben Jahr verlor Donovan auch seinen Vater. Er hat gelernt, mit dem Vorfall zu leben, den Tod als natürlichen Lauf der Dinge zu sehen, egal wie er passiert. „Menschen werden geboren. Sie gehen eine gewisse Zeit gemeinsamer Wege. Sie sterben. Es geschieht täglich. Überall.“
Trotzdem: Der Verlust von Mylinh sitzt tief. Seit dem Vorfall hatte er keine Beziehung mehr, obwohl er sich wieder eine wünschen würde. „Ich hätte gern eine wesentlich jüngere Partnerin“, sagt er.
„Ich weiß, manche verurteilen mich dafür, weil ich nach außen hin ein alter Kerl bin. Aber Frauen meines Alter vertreten oft Ansichten, die ich nicht teile. Ich identifiziere mich mit der jungen Generation, die ist dem Leben gegenüber aufgeschlossener.“ Donovan war bisher siebzehnmal beim Burning-Man-Festival in der Wüste von Nevada, seine Tochter hat ihn dahin mitgenommen.
An seinem aktuellen Aufenthaltsort in Mexiko stellt er der Start-up-Szene für eine Eventreihe seine Lautsprecherboxen zur Verfügung. Er baut die Technik auf und transportiert sie wieder ab, ohne Geld dafür zu verlangen. „Meine Philosophie lautet: Geld ist dazu da, um ausgegeben werden zu. Menschen sind dazu da, um zu lieben und geliebt zu werden. Insofern sollte man Geld für Menschen ausgeben, die man mag.“
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Das Beste suchen und finden
Als wir eine heiße Schokolade trinken und ich weiter in seinem Leben grabe, frage ich Donovan, was man später mal über ihn sagen soll. Er denkt kurz darüber nach und sagt dann bestimmt: „Das, was ich auch auf den Grabstein meiner Frau Mylinh habe schreiben lassen: Ever she sought the best, ever she found it.“ Was übersetzt so viel heißt wie: „Immer suchte sie das Beste, immer fand sie es.“
Da ist er wieder, sein Optimismus. Donovan mag kein Heiliger sein. Aber er ist definitiv jemand, der einem zeigt, dass man die Welt zu einem freundlicheren Ort machen kann. Wenn man sich nur dafür entscheidet.