Was macht eigentlich die Kunst mit uns?
Jeden Tag ein bisschen Kunst? Ja, unbedingt! Die neuen Eindrücke beflügeln nicht nur unser Fühlen und unser Denken, sie verbinden uns auch mit der Welt – und mit uns selbst.
Es gibt da diese Gemäldeserie von Mark Rothko, im Grunde sind es nur Bilder von großen roten oder purpurnen Quadraten, aber mit einem besonderen Effekt: Viele Menschen berichten, dass sie weinen müssen, wenn sie diese Bilder sehen. Wieso passiert das? Ja gut, die Bilder sind schön. Aber sie tun nichts. Sie bewegen sich nicht, erzählen keine Geschichten – warum brechen dann so viele Betrachter in Tränen aus?
Niemand weiß das so genau. Nicht einmal Matthew Pelowski. Der Psychologe vom Wiener Institut für Kognition und Emotionen leitet ein internationales Forschungsprojekt, das es sich zum Ziel gesetzt hat, zu verstehen, wie Kunst uns verändert (Pelowski sagt transformiert). Und obwohl man es in der Forschung gerne sehr konkret und präzise hat, ist bereits an diesem Satz alles ein wenig verschwommen. Denn wer ist „uns“? Was ist „Kunst“? Und was bedeutet „Transformation“?
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Denken verändern, erweitern
Zumindest für Letztgenanntes gibt es eine Definition. Sorry, die wird jetzt ein bisschen trocken (wie das bei Definitionen oft der Fall ist) – aber danach sind wir klüger und wissen, wovon wir hier eigentlich reden (wie das bei Definitionen ja auch oft der Fall ist):
„Transformatives Lernen stellt einen Prozess dar, bei dem durch kritische (Selbst-)Reflexion bereits bestätigte eigene Vorannahmen (Perspektiven, Denkweisen oder Denkgewohnheiten) transformiert werden, um diese sowohl zu verändern als auch zu erweitern.“
Und genau das scheint zu passieren, wenn man auf so ein farbiges Rothko-Quadrat schaut. Arg, oder? „Für mich als Psychologen ist das faszinierend“, sagt Matthew Pelowski. „Es ist genau dieser kognitive Prozess, der da unbewusst abläuft: Du betrittst die Galerie mit bestimmten Erwartungen – und ein Kunstwerk weigert sich, diese zu erfüllen.
Es ist vielleicht viel mehr oder viel weniger, als du dachtest, viel mehr oder weniger, als du in dem Moment gebraucht hättest ... Die Menschen finden sich in einer Galerie wieder, ganz allein, konfrontiert mit dem Bild, und müssen plötzlich alles Mögliche mit sich selber ausmachen. Das hat bei den Betrachtern viel ausgelöst. Oder wie wir in der Psychologie eben sagen: Das war transformativ.“
Das war alles Krixikraxi. Der Künstler ist ein Trottel. Was für eine Sauerei, für so etwas auch noch Eintritt zu verlangen.
Matthew Pelowski, Psychologe
Ist Kunst verstörend oder betörend?
Kunst kann uns auf ganz viele Arten berühren und verändern. Denn jedes Mal, wenn wir eine Begegnung mit einem Kunstwerk haben, bringen wir etwas von uns selbst mit. Wir bringen unsere Ideen darüber mit, wer wir sind, wie die Welt ist, vielleicht auch darüber, wie Kunst sein sollte. Und in vielen Fällen stellt Kunst all diese Vorstellungen auf den Kopf.
„Dann können zwei Dinge passieren“, sagt Pelowski. „Wir reagieren verärgert, fühlen uns nicht wohl, lehnen diesen ‚Gegenentwurf ‘ ab, den die Kunst uns präsentiert. Manchmal sogar sehr heftig. Oder aber das Erlebnis hält uns einen Spiegel vor, und wir beginnen nachzudenken: Was passiert hier gerade? Warum wühlt mich das auf? Warum fühle ich, was ich fühle? Das passiert unbewusst, doch wenn wir uns darauf einlassen, setzt es einen Prozess in Gang, an dessen anderem Ende wir mitunter besser herauskommen.“
Anders gesagt: Entweder wir finden nach dem Galeriebesuch „Das war alles Krixikraxi“, „Der Künstler ist ein Trottel“, „Was für eine Sauerei, für so etwas auch noch Eintritt zu verlangen“ – „also klassische Schutzreaktionen, wie wir sie aus vielen Lebensbereichen kennen“, sagt Pelowski –, oder es tut sich was.
Kraftvoll, aufwühlend und wunderbar: Kunst weitet Räume. Denn es gibt sie, die Malerei, Skulptur oder Installation, die – wie der Kunsthistoriker Robert Fleck schreibt – „direkt das Nervensystem erreicht“. Wenn wir uns darauf einlassen, kann das beglücken. Auf jeden Fall schärft es unsere Sinne.
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Kunst: eine Belohnungserfahrung
Kunst macht uns aber auch noch auf viel unmittelbarere Weise glücklich; so ganz ohne Lernen und Transformation.
Zunächst einmal ist Kunstgenuss nämlich eine Belohnungserfahrung: Im Gehirn werden Dopaminnetzwerk und mesolimbisches System aktiviert, das Zentrum für Freude, Lust und Motivation. Schokolade, Sex oder Kunst – im Grunde löst das alles dasselbe neuronale Kribbeln aus.
Sogar schon im Vorhinein! Tatsächlich gibt es eine Studie aus Kopenhagen, die zeigt, dass das Dopamin-Netzwerk bereits aktiv ist, wenn man den Menschen nur sagt, dass sie demnächst Kunst sehen werden ... Wenn man ihnen dann auch noch ein Gemälde aus Claude Monets „Wasserlilien“-Serie vorsetzt, kriegt sich das Zwischenhirn vor Freude gar nicht mehr ein.
Okay, das mag ein wenig übertrieben formuliert sein, aber: Menschen fühlen sich prinzipiell gut, wenn sie Monets „Wasserlilien“ sehen. Die Werke dieser Reihe gehören zu den harmonischsten, weltweit als am beglückendsten empfundenen Bildern – und die Betrachter fühlen sich danach weniger einsam.
Auch dazu gibt es – erraten! – eine Studie (ebenso wie zu blutdrucksenkenden Effekten, Minderung von Angststörungen ... man kennt das alles).
Kurz: Willst du, dass deine Eltern gesund und glücklich alt werden? Dann schenk ihnen ein Konzert-Abo und eine Jahreskarte fürs Museum!
Menschen fühlen sich prinzipiell gut, wenn sie Monets ‚Wasserlilien‘ sehen.
Stimmungsbarometer Kunst
Schön ist das. Wobei: Einsam oder gar traurig sein – das ist ja manchmal gar nicht schlecht. Mitunter ist es sogar das, was wir in der Kunst suchen.
„Es ist wirklich ein Rätsel“, sagt der Philosoph Konrad Paul Liessmann. „Wenn es mir gutgeht und ich in einer fröhlichen Stimmung bin, kann ich sofort tieftraurig werden, sobald ich mir ein bestimmtes Musikstück auflege. Gleichzeitig bin ich aber nicht traurig – mir geht’s doch gut! Trotzdem kann ich über die Musik erfahren und lernen, was es heißt, traurig zu sein.“
„Das Schöne an der Kunst ist, dass wir uns diesen Emotionen auch mit einer gewissen Lust hingeben können. Die Traurigkeit und die Fröhlichkeit, die ich beim Anblick eines Kunstwerks empfinde, sind anders als die, die ich aus dem alltäglichen Leben kenne. Wenn ich mich in einem Roman mit einer Figur identifiziere, die Liebeskummer hat, dann kann ich mittrauern. Aber es fühlt sich anders an, als wenn es mein eigener Liebeskummer wäre. Trotzdem lerne ich einiges darüber, was es heißt, Liebeskummer zu haben.“
Kunstgenuss hilft uns auch, wenn wir was zu verarbeiten haben. „In einer Trauerphase zu trauriger Musik zu greifen wirkt wie ein Turbo: Es hilft uns, schneller durch das tiefe Tal zu gehen, durch das wir zur Verarbeitung ohnedies durchmüssen“, sagt der Psychologe Pelowski.
Da kann es durchaus passieren, dass uns ausgerechnet die Konfrontation mit unseren unangenehmen Gefühlen von ebendiesen unangenehmen Gefühlen befreit. Und nicht zuletzt erlangen wir die tröstliche Gewissheit, nicht allein zu sein: Elton John oder Billie Eilish haben wohl ähnliche Erfahrungen gemacht, sonst hätten sie diesen Song ja nicht geschrieben.
Guter Tipp übrigens: ins Kino gehen! „Trauer ist normalerweise ein sehr persönlicher und oft auch einsamer Prozess. Aber in einem Kino zu sitzen, in dem alle rund um mich bei derselben Stelle weinen, vergemeinschaftet Trauer – und das macht sie zu etwas Verbindendem“, sagt Matthew Pelowski.
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Die Kunst als Möglichkeitsraum
Großartig ist die Kunst auch deshalb, weil sie uns Erlebniswelten öffnet, die uns sonst – zum Glück – verschlossen sind.
Also: Die meisten von uns werden nie die Erfahrung einer Johanna von Orléans machen, die von Stimmen besessen war und auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde. „Aber wenn wir lesen, wenn wir ein Theaterstück sehen, wenn wir ins Kino gehen, können wir Lebensexperimente anstellen, ohne selbst gefährdet zu sein“, sagt Liessmann.
Kunst sei deshalb: lebendig sein auf Versuch. „Das hat damit zu tun, dass Kunst ein Reich der Möglichkeiten darstellt, ein Reich der Fantasie, der Fiktionen, in dem vieles durchgespielt werden kann, was wir im Leben gar nicht tun könnten. Denken Sie etwa an einen guten Kriminalroman, der aus der Perspektive eines Mörders geschrieben ist. Da bekommen Sie ein Gefühl dafür, wie es im Seelenleben eines zutiefst aggressiven Menschen aussehen mag.
Das heißt, die Kunst erschließt uns Bereiche des Menschlichen als Möglichkeitsräume, die unser Verständnis für die Wirklichkeit erweitern können – und natürlich auch ganz wesentlich unser Verständnis für uns selbst. Genau darin steckt auch das Veränderungspotenzial von Kunst: Wenn ich mich plötzlich mit anderen Augen sehen kann, dann werde ich auch – ein klein wenig zumindest – ein anderer.“
Da ist sie also wieder, diese Sache mit der Transformation. „Kunst hat die Macht, die Gesellschaft zu verändern, weil sie jeden Einzelnen von uns verändert.“ – Das ist der Satz, den Matthew Pelowski seinem Forschungsprojekt vorangestellt hat.
Wie ihr das gelingt, wissen wir zwar noch nicht so genau – aber vielleicht fängt alles mit ein paar bunten Quadraten auf der Leinwand an. Vorhang auf für neue Gefühlswelten! Theater, Literatur und Filme schenken uns tausende prickelnde Leben „auf Versuch“. Durch sie tauchen wir in Erfahrungen ein, die uns im Alltag verschlossen sind.