Spüren kommt vor Denken

Unser Körper weiß mehr, als wir selbst wissen – vor allem wenn es um unsere Gefühlswelt geht. Egal, welche Emotion in uns aufkommt, sie macht sich immer zuerst als körperliche Reaktion bemerkbar. Der schnellere Herzschlag bei Freude oder Angst. Die angespannten Kiefer- und Fingermuskeln bei Wut. Erst Sekunden später geben auch Hirn und Verstand ihren Senf dazu, um das Erlebte einzuordnen und zu benennen.

Meine Körperkarte

Das Interessante ist: Wo wir im Körper „fühlen“, ist keineswegs individuell. Menschen weisen erstaunlich ähnliche Muster auf – wie Forscher der finnischen Aalto-Universität mit Hilfe von 700 Testpersonen und Farb-Codes zeigen konnten. Ihre „Körperkarte der Gefühle“ („Bodily Map of Emotions“) führt vor Augen: Wut spielt sich jeweils im oberen Körperbereich ab, z. B. als Schmerzen in der Brust oder Anspannung im Kopf- oder Bauchbereich. Freude und Liebe sorgen für ein durchgängiges Wärmegefühl. Traurigkeit und Depressionen fühlen sich leer an, vor allem in Armen und Beinen ist wenig zu spüren.

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Die Karte lesen lernen

Dieses Wissen kann uns bei der Gefühlsregulation helfen. Achtsamkeitslehrerin Carina Ehrnhöfer sagt: „Wer körperliche Gefühlsempfindungen bewusst wahrnimmt, kann sich selbst besser verstehen und den eigenen Bedürfnissen mehr Raum geben. Was tut mir gut, was nicht? Wovon will ich mich abgrenzen? Außerdem können wir eine bessere Verbindung zu anderen aufbauen und angemessen reagieren, wenn sich verzwickte Situationen auftun.“

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Schritt 1: Lokalisieren

Wo spüre ich meine Wut, Trauer, Hilflosigkeit jetzt im Körper? Schnürt es mir die Kehle zu? Sind meine Nackenmuskeln verspannt? Ist mein Magen flau? „Je öfter wir diesen Prozess wiederholen, desto schneller entwirren wir das Gefühlsknäuel und können dazu übergehen: Bin ich wirklich wütend, oder steckt vielleicht etwas anderes dahinter?“

Schritt 2: Vokabular vergrößern

„In Emotionstrainings ist einer der wichtigsten Schritte, ein breiteres Gefühlsvokabular zu entwickeln“, erklärt Carina Ehrnhöfer. „Durch Erziehung und Sozialisation fehlen uns oft die Worte. Wir können vielleicht Grundemotionen wie Freude, Wut, Trauer und Angst artikulieren und was sich angenehm bzw. unangenehm anfühlt. Tiefer geht es oft nicht. Doch was wir nicht benennen können, können wir auch nicht in vollem Ausmaß fühlen – das gilt auch für positive Gefühle.“ Freude kann von Stolz, Erleichterung, Faszination oder Hoffnung genährt sein. Hinter Wut verstecken sich oft Verzweiflung, Enttäuschung, Hilflosigkeit. Trauer ist nicht immer gleich Verlust, sondern auch fehlende Zuversicht oder Einsamkeit. Eine diffuse Emotion kann man einstweilen auch als „Störgefühl“ verbuchen. „Störgefühl heißt nur, etwas passt nicht – und diese Tatsache zu kommunizieren kann sehr befreiend sein und Druck von sich selbst und einer Situation nehmen.“ – Hier noch eine „Hausübung zum Vokabellernen“: Was ist beim letzten Angstgefühl alles mitgeschwungen?

Bas Kast

Werkzeugkasten für die Seele

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Schritt 3: Bei Explosionsgefahr ablenken

Gefühle unterdrücken – nein. Aber extreme Gefühlsausbrüche kurz wegschieben, um der Emotion die Intensität zu nehmen (z. B. im Streit) – ja.
„Wenn ein Kind sich aufregt oder fürchterlich weint, dann versuchen wir, seine Aufmerksamkeit woanders hinzulenken. Das funktioniert auch bei Erwachsenen: Läuft man Gefahr, sich in eine Emotion hineinzusteigern, hilft es, auf das Umfeld zu fokussieren: Was sehe ich? Was höre ich? Was schmecke ich? Auch Selbstberuhigung mit sensorischen Reizen kann helfen: sich die Hand aufs Herz zu legen, kaltes Wasser über die Hände laufen zu lassen, einen Noppenball zu kneten …

Schritt 4: Nicht unnötig befeuern

Emotionen sind etwas Kurzfristiges. Ein normaler Zyklus dauert ca. 90 Sekunden. Zumindest theoretisch – würde man nicht ständig Öl ins Feuer gießen … Ja, man hat sich geärgert. Aber indem man ständig über die auslösende Situation nachdenkt, keimt der Ärger immer wieder auf. Das Zauberwort lautet: Gedankenhygiene. „Wenn ich gedanklich rotiere, hilft, bewusst die Pause-Taste zu drücken und an etwas anderes oder auch an etwas Erfreuliches zu denken.“

Schritt 5: Hinter die Fassade blicken

Schaffen wir es, das Gefühl zu zerlegen („Hinter meiner Angst stecken fehlende Sicherheit, Einsamkeit etc.), gilt es, neugierig zu erforschen: Was könnte die positive Lehre sein? „In Wut steckt z. B. viel Kraft und ein Handlungsimpuls. Wir wollen unsere Grenzen verteidigen, irgendetwas von uns fernhalten. Wir können diese Energie aber auch nutzen, um Vorhaben umzusetzen.“ Sobald wir akzeptieren, dass jedes Gefühl uns weiterbringt, unterdrücken wir unangenehme Gefühle weniger, denn das ist nur, als würde man einen Wasserball ständig unter Wasser drücken. Der Prozess kostet Kraft, und nicht selten springt der Ball plötzlich in unangemessenen Situationen hoch.

NACHGEFRAGT BEI:
CARINA EHRNHÖFER, MSc ist diplomierte Meditations- und Achtsamkeitslehrerin. Sie bietet Trainings für bessere Selbstwahrnehmung und Emotionsregulation. Infos: higher-potentials.at