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Sechs Tage und fünf Nächte allein auf einer einsamen Insel im Indischen Ozean. Im Gepäck: so gut wie nichts. Wie fühlt sie sich an, so eine Begegnung mit sich selbst? (Und geschätzt drei Milliarden Krebsen? Und dem Universum?) Unsere Autorin Waltraud Hable hats herausgefunden.

„Welche drei Dinge würdest du auf eine einsame Insel mitnehmen?“ Vor Jahren hat ein Mann mir diese Frage gestellt. Meine Antwort – „ein Boot, ein Buch und Schokolade“ – entlarvte mich seiner hobbypsychologischen Expertise zufolge als bindungsängstlich, verschlossen und verfressen.

Halten wir fest: Der Kerl war Zeitverschwendung. Genauso wie die Suche nach einer patentcharmanten Antwort auf die Packfrage. Denn drei Dinge?! Reichen nie und nimmer. Reisepass, Trinkwasser und Sonnenschutz sind quasi Grundvoraussetzung. Außer man hat Mafiabeziehungen oder einen ausgeprägten Hang zum Leiden. Aber das weitaus größere Problem ist: Du musst erst mal eine einsame Insel finden. Die Welt ist bis zum letzten Quadratmillimeter in Grundbesitz.

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Du musst erst mal eine einsame Insel finden. Die Welt ist bis zum letzten Quadratmillimeter in Grundbesitz.

Ich weiß, wovon ich rede. Es brauchte Wochen, um diese unberührte Insel mitten im Indischen Ozean aufzutun. Mein Postkartenidyll mit Kokospalmen, schroffen Felsen und Sandstrand gehört zu einem Archipel vor Indonesien, irgendwo weit, weit draußen am Horizont beginnen die Malediven. Alvaro Cerezo, Kopf der Zwei-Mann-Reiseagentur DoCastaway, hat mich hierhergebracht. In einer Zeit, in der man immer erreichbar sein muss und jeder Landstrich verbaut zu sein scheint, ist der 38-jährige Spanier besessen davon, Inseln mit dem höchsten Grad an Isolation zu finden und diesen auch zu bewahren. Aus diesem Grund sind die konkreten Koordinaten des Eilands geheim. DoCastaway ließ mich und Philipp, den begleitenden Fotografen, sogar eine Verschwiegenheitsklausel unterschreiben.

Insel Zeichnung

Bild: Anna Frohmann

Für Alvaro kommen einsame Inseln einer Zeitreise gleich, mit einer Flora und Fauna wie vor hunderten von Jahren. Für diesen Zauber reist er um die ganze Welt. Tut sich ein passendes Land auf, verhandelt er mit Besitzern und Behörden eine Campingerlaubnis und stellt dann für rund 1.000 Euro pro Woche die Insel selbst und das Nötigste zum Überleben zur Verfügung: Macheten, eine Harpune, ein Feuerzeug, zwei Kochtöpfe, Angelleine und Köderhaken und einen 12-Liter-Kanister Trinkwasser. Kein Zelt, kein fester Unterschlupf. Ich habe das Ganze insgesamt sechs Tage und fünf Nächte gebucht. Und neben Kleidung, Seife und Zahnbürste zusätzlich eine Hängematte, Sonnenschutz, Stirnlampe, ein Kilo Reis, 500 Gramm Quinoa eingepackt. Den Wechselbikini ließ ich daheim. „Je weniger ihr mitbringt, desto prägender wird euer Erlebnis sein“, bläute Alvaro uns ein.

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Für Alvaro kommen einsame Inseln einer Zeitreise gleich, mit einer Flora und Fauna wie vor hunderten von Jahren. Für diesen Zauber reist er um die ganze Welt.

Wie prägend, das habe ich in der dritten Nacht erfahren. Wenn ein Tropensturm mit 120 km/h über einen hinwegfegt und man sich nass und ausgekühlt unter einer Plastikplane verkriecht, kann man schon mal mit dem Leben hadern. Einsame Insel? Ohne Campingerfahrung?! Was hatte ich mir nur dabei gedacht? Dabei hatte Alvaro im Vorfeld gewarnt: „Auf der Insel wird es gegen 19 Uhr dunkel und erst zwölf Stunden später wieder hell. So ein nächtlicher Sturm kann eine gefühlte Ewigkeit dauern und vor allem ziemlich kalt werden.“ Ich wiegelte ab – „Jaja, wir nehmen eh zwei Plastikplanen und warme Pullis mit“ – und machte mir dann über die wirklich wichtigen Dinge im Leben Gedanken. Zum Beispiel, wie man knapp eine Woche ohne Dusche und ohne Geruchsbelästigung übersteht. (Dass Fotografen-Philipps Nase nach einer Polypenentfernung noch nicht wieder feinjustiert war, kam mir sehr gelegen.) Oder wie man sich vor Sandflöhen schützt, laut Wikipedia höchst heimtückische Biester. Bevorzugt legen sie ihre Eier in den Fußsohlen ab.

Sonnenuntergang auf einer Insel

Bild: Philipp Horak

Mittlerweile kann ich behaupten: Die schlimmste Bedrohung in freier Natur sind nicht bissige Insekten (ich habe keine Sandflöhe oder Moskitos erlebt, einem steten Lüftchen sei Dank). Was du wirklich fürchten musst, das ist der Regen.

Regen ist brutal. Er bringt Körper und Geist an ihre Grenzen. Zumal es von einer einsamen Insel – trotz Notfallhandys – keine Schnellevakuierung gibt.

Regen ist brutal. Er bringt Körper und Geist an ihre Grenzen. Zumal es von einer einsamen Insel – trotz Notfallhandys – keine Schnellevakuierung gibt. Merke: Einsame Inseln sind vor allem deshalb einsam, weil kein Boot direkt andocken kann. „Ihr müsst ans Ufer schwimmen“, werden wir angewiesen, als der Motor 200 Meter vor dem Inseltraum plötzlich verstummt. „Und unser Equipment? Die Kameras?“ – „Die transportieren wir für euch rüber.“ Unser Bootsführer ist bereits mit einer überladenen Plastikbox in die Fluten gesprungen. Mir bleibt nichts anderes übrig, als in voller Montur hinterherzuhechten und dann tropfnass durch den Dschungel zu jener Bucht zu marschieren, die Philipps und mein Exil werden soll.

Waltraud Hable mit einer Plastikplane bei einem Sturm auf einer Insel

Bild: Philipp Horak

„Denkst du, das wars?“, frage ich ihn, als der Sturm sich im Morgengrauen langsam legt und er sich erschöpft neben mich in den Sand fallen lässt. Philipp hat ein paar Meter entfernt dem Taifun getrotzt, dort, wo das tropische Dickicht beginnt und unsere Hängematten aufgespannt sind. Ich nenne es die Dschungelversion von „Blair Witch Project“: ein schaurig schönes Durcheinander von Spinnweben, Palmen, Agaven und leeren Kokosnüssen. „Noch so eine Nacht überstehe ich nicht, Philipp.“ – „Aber die Anreise war zu lang, um jetzt aufzugeben. Dieser Sturm war eigentlich erst der Anfang unseres Inselabenteuers.“ Ich weiß, er hat recht.

Ich nenne es die Dschungelversion von Blair Witch Project ein schaurig schönes Durcheinander von Spinnweben, Palmen, Agaven und leeren Kokosnüssen.

Das Unwetter mag mich zwar ordentlich durchgeschüttelt haben, es hat aber auch geholfen, die Dinge klarer zu sehen. Und mit der Sonne, die langsam die Spuren der nächtlichen Apokalypse trocknet, kehrt auch mein Kampfgeist zurück. Seitdem schreite ich unablässig durch mein tropisches Königreich und beginne zu erahnen – aber noch lange nicht zu begreifen –, wie alles zusammenhängt. Das Sichtbare. Und das Unsichtbare. Das mag abgedreht klingen, aber anders kann ich es nicht beschreiben. Eine Lebenslektion nach der anderen brennt sich in mein Hirn.

Lebenslektion 1 auf einer einsamen Insel: Die Einsamkeit ist nicht still.

Mit einer Machete auf einer Insel eine Kokosnuss aufschlagen

Bild: Philipp Horak

In der Bucht, in der uns Alvaro unserem Schicksal überlassen hat, herrscht eine hohe Brandung. Auch bei ruhigem Wetter ist das Meer so laut, dass man das eigene Wort nicht versteht. Im Dschun­gel selbst raschelt und fiepst es, der Wind heult durch die Palmen, Vögel singen sich Informationen zu, manchmal fällt mit einem „Plopp“ eine Kokosnuss zu Boden. Dann laufe ich, leicht schwindelig vom Unterzucker, los – mehr als einen Teller Reis pro Tag haben wir bisher nicht ge­gessen –, um sie aufzulesen. Alles, was ich nicht selbst mit einem Bambusrohr vom Baum schlagen muss, spart Energie. Und solange man Kokosnüsse hat, überlebt man, heißt es. Die grünen, un­reifen Früchte enthalten bis zu 500 Milli­liter Wasser mit Elektrolyten, und man schlägt sie idealerweise auf, ohne sich einen Finger mit der rostigen Machete abzutrennen. Am Ende hört man neben dem tosenden Meer vor allem eins: mein Frustgeschrei.

Lebenslektion 2: Urinstinkt hat nichts mit Mordlust zu tun.

Ich dachte, dieses Survival­abenteuer würde meine Urinstinkte wecken, jedes Lebewesen zu einer wandelnden poten­tiellen Mahlzeit machen. Mein Vater ist Metzger, die Sache wäre also gar nicht mal so abwegig. Doch das Gegenteil ist der Fall. Ich will nichts töten. Ich fühle mich plötzlich seltsam verbunden. Mit den gefühlt drei Milliarden Einsiedler­krebsen im Sand etwa. Sie über dem Feuer zu rösten, dazu kann ich mich zu keinem Zeitpunkt durchringen. Nicht einmal die Einheimischen essen sie, in Indonesien glaubt man an Naturgeister.

Eine Frau hält einien Krebs in der hand

Bild: Philipp Horak

Ich beginne meine neuen Freunde zu stu­dieren: Es gibt Tiere mit grünen Schne­ckenhäusern am Rücken. Manche sind babyrosa, andere gepunktet oder rot­ braun­weiß. Ein Exemplar, ich taufe es Anton, hatte offenbar einen Unfall, ihm fehlt ein Stück im Panzer. Er taucht stets bei Dämmerung auf. Was auch schnell klar wird: Anton und seine Artgenossen sind Junkies, süchtig nach Kokosnüssen. Fällt ein Schnipsel von unseren Macheten zu Boden, stürzen sie sich in Dutzenden darauf; die Exkremente in der Freiluft­toilette verspeisen sie übrigens auch. Ich mag sie.

Anton und seine Artgenossen sind Junkies, süchtig nach Kokosnüssen.

Genauso wie die Albinokrab­ben. Ihre korrekte Bezeichnung kenne ich nicht. Sie leben vorwiegend in Löchern am Strand, haben einen lustigen Seit­wärtsgang und aufmerksame Stielaugen. Nahrungstechnisch sehen sie vielverspre­chender aus als die Kokossüchtler. Aber ich kann sie trotzdem nicht mit einem Stein erschlagen. Denn die Albinos sind Hardcore­-Romantiker. Wenn abends der Himmel pink und rot zu glühen beginnt, unterbrechen sie ihr Treiben. Plötzlich sind sie für mich menschlich.

Lebenslektion 3: Der Natur bist du egal. Trotzdem beschenkt sie dich.

Palme

Bild: Philipp Horak

Nach dem Sturm habe ich mit der Na­tur gehadert. Aber mittlerweile dämmert mir: Der Taifun war keine Kampfansage der Welt an mich. Meine Wenigkeit ist der Natur herzlich egal. Sie ist größer als ich. Sie wird noch existieren, wenn ich längst nicht mehr bin. Dennoch stellt sie großzügig alles zur Verfügung, was ich zum Leben brauche. Ich muss die Geschenke nur erkennen lernen: Da wäre zum Beispiel das Meer. Ein Schuss Ozean im Kochwasser würzt meinen Reis. Zum Reinigen des Topfs ist Sand das beste Scheuermittel. Dazu wird täglich Treibholz angespült; von der Sonne getrocknet, brennt es wie Zunder. Oder die Palmen, diese Universalgenies! Sie sind Kokosnuss- und Schattenspender, Hängemattenstützen, und in leeren Kokosschalen kann man wunderbar Regenwasser auffangen. Ein abgeschnittenes Agavenblatt wiederum lässt sich als Trichter gebrauchen. Hält man es im richtigen Winkel hoch, geht beim Umfüllen vom Wasserkanister in die Trinkflasche kein Tropfen verloren. Als Nächstes möchte ich den Reis mit Algen aufpeppen, auch wenn Philipp skeptisch ist.

Lebenslektion 4: Schön ist, was keiner Ordnung folgt

Frau geht am Strand spazieren

Bild: Philipp Horak

Vielleicht verzieht er sein Gesicht aber auch wegen meines neuen Ichs. Was ich früher mal Haarpracht nennen durfte, ist heillos von Wind und Meerwasser verfilzt. Der Rost der Macheten hat meine Finger braun verfärbt. Ein klebriger Film aus Salzwasser, Sonnenschutz, Sand und Staub überzieht meinen ganzen Körper. Doch ich fühle ich mich nicht unansehnlich. Warum, das beginne ich erst zu begreifen, als ich das Chaos des Dschungels von der Hängematte aus studiere: In der Natur wächst nichts gerade oder in einem rechten Winkel, nichts folgt einer logisch nachvollziehbaren Ordnung oder einem Ideal und ist genau deshalb so faszinierend schön. Hinter mir verrotten entwurzelte Bäume und, ich wette, auch jede Menge tote Echsen, Vögel und Krabben.

Trotzdem: Die Natur riecht taufrisch. Während ich das von mir langsam nicht mehr behaupten kann.

Lebenslektion 5: Du bist Teil eines großen Ganzen, auch wenn du ins Nirgendwo fliehst.

Waltraud Hable taucht im Meer

Bild: Philipp Horak

So abgeschottet meine Insel liegen mag und so intakt ihr Ökosystem wirkt, der Verschmutzung der Weltmeere ent­kommt auch sie nicht. Mit Müllsäcken, eigentlich als Kameraschutz mitgebracht, sammle ich angespültes Plastik. Allein in „meiner“ Bucht stoße ich auf hunderte leere Flaschen. Ölkanister. Sonnenmilch­tuben. 56 einzelne Flip­Flops. Dazu: Zahnbürsten. Spielzeugfiguren. Joghurt­becher. Alte Bojen. Und Plastikstrohhalme, von Salz und Sonne so porös, dass sie zwischen meinen Fingern zer­bröseln. Es bricht mir schier das Herz, als ich sehe, wie Krabben die Mikroteile zwischen ihre Scheren nehmen und da­ von kosten. Ich beginne zu erahnen, wie meine Vergangenheit Teil der Gegen­wart ist: Die Haarklammer, vor Jahren im Meer verloren, lässt vielleicht gerade einen Fisch verenden.

Allein in meiner Bucht stoße ich auf hunderte leere Flaschen. Ölkanister. Sonnenmilch­tuben. 56 einzelne Flip­Flops.

Ich werde unruhig, muss etwas tun, setze eine Müllverbrennungsanlage in Gang. Sechs volle Riesensäcke, 720 Liter Plastik, gehen in schwarzem Rauch auf. Das Feuer mag zwar die Luft verpesten, aber am Festland würde man dassel­be mit dem Müll machen. Und es stellt zumindest sicher, dass die Babyschild­kröten, die hier bald schlüpfen werden, in eine sauberere Welt watscheln. Spuren im Sand verraten, wo eine Schildkröte Nistkammern angelegt haben muss. Ir­gendwann dämmert mir, dass auch unter meiner Feuerstelle Eier liegen könnten.

Hängematte zwischen zwei Palmen

Bild: Philipp Horak

Na geh! Der Kreislauf des Lebens scheint zu vielschichtig für mein klein dimen­sioniertes Hirn. Als Alvaro am sechsten Tag wie aus dem Nichts auftaucht, um uns zurück zum Boot zu führen, freue ich mich auf kilo­weise Nasi Goreng, eine Dusche und Jod für das an den Korallen aufgeschürfte Knie. Alvaro will plaudern.

Mit drei Dingen kann man auf keine Insel fahren. Aber die Insel entlässt mich mit drei Dingen zurück ins Leben Demut. Respekt. Und Gelassenheit.

Über den Sturm, den Hunger und das Gefühl, allein auf der Welt zu sein. Ich bin noch nicht bereit dafür, blei­be wortkarg, kralle mir eine versteinerte Koralle im Sand, um irgendwas von hier mitzunehmen. Wissend, dass das wich­tigste Mitbringsel real nichts wiegt. Mit drei Dingen kann man auf keine Insel fahren. Aber die Insel entlässt mich mit drei Dingen zurück ins Leben: Demut. Respekt. Und Gelassenheit.

7 Erkenntnisse aus meiner Woche auf der einsamen Insel

  1. Hygienestandards sind relativ. Spätestens nach der ersten Freiluftnotdurft ist klar: Man überlebt auch ein paar Tage ohne Händewaschen und Dusche. Das Meer ist Badewanne, Waschmaschine und irgendwann dein bester Freund.
  2. Die Natur macht die großzügigsten Geschenke. Man muss ihre Gaben nur erkennen lernen. Der Ozean spült Feuerholz an und salzt das Essen. Leere Kokosnüsse fangen Regenwasser auf. Kakteen dienen als Wäscheständer, Agaven als Trichter.
  3. Vögel, Grillen, das Meer und der Wind singen die zauberhaftesten Melodien – und liefern ein Gratis-­Reset-­Programm für das Gehör.
  4. Schlangen, Echsen und Insekten muss man nicht fürchten. Regen schon. Die Tiere suchen das Weite, sobald sie dich hören. Der Regen hingegen kühlt dich gnadenlos aus.
  5. Müll „verschwindet“ nicht einfach von dieser Welt. Er taucht immer irgendwo auf.
  6. Chaos ist Schönheit. In der Wildnis wächst nichts gerade.
  7. Die besten Momente lassen sich nicht fotografieren. Man trägt sie für immer im Herzen.