carpe diem: Jessie, du hast mit dem eher sperrigen Thema „Glukose“ einen Instagram-Hit gelandet – 2,8 Millionen Menschen folgen @glucosegoddess, dein Buch „Der Glukose-Trick“ wurde in über 40 Sprachen übersetzt. Warum sollte mich mein Blutzucker auch als Nichtdiabetiker interessieren?

Jessie Inchauspé: Weil Glukose unser aller Leben beeinflusst. Es ist die bevorzugte Energiequelle für unseren Körper. Das Problem ist nur, dass fast 90 Prozent der Bevölkerung heutzutage zu viel Glukose im Körper hat – ausgelöst durch Ernährungsgewohnheiten und versteckten Zucker in industriellen Lebensmitteln. Man kann sich das wie bei einer Pflanze vorstellen: Gibst du ihr ein bisschen Wasser, ist sie glücklich. Gießt du zu viel, ertrinkt und stirbt sie. Daher: Wer sich physisch oder geistig besser fühlen möchte, tut gut daran, den Glukosewerten Beachtung zu schenken.

Wie erkenne ich, dass mein Blutzuckerspiegel Achterbahn fährt? Was sind Symptome, die man im Alltag leicht übersehen kann?

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Zwei häufige Symptome sind Heißhunger auf Süßes und anhaltende Müdigkeit. Also wenn man unbedingt diesen Keks oder die Schokolade braucht. Oder wenn man trotz genügend Schlaf in der Früh wie gerädert aufwacht und kaum Energie hat, die Kinder abzuholen oder einkaufen zu gehen. Wenn es fünf Tassen Kaffee braucht, um den Tag zu überstehen. Das sind deutliche Zeichen, dass unsere Mitochondrien – die kleinen Fabriken in unseren Zellen, die eigentlich Energie aus Glukose herstellen sollen – überlastet sind und nicht mehr so gut funktionieren.

Schlechte Haut kann auch ein Indiz sein, richtig?

Ja, in Form von Akne, Ekzemen oder Schuppenflechte etwa. Auch Fruchtbarkeitsprobleme, Zyklusschwankungen und eine schwierigen Menopause sind mögliche Folgen. Und langfristig stehen natürlich Prädiabetes und Typ-2-Diabetes im Raum. Laut Forschung zeichnet sich auch eine starke Verbindung zu Alzheimer, Herzkrankheiten und Krebs ab. Das alles zeigt: Mit instabilen Glukosewerten sind Geist und Körper nicht in der Lage, optimal zu funktionieren.

Glukose-Trick Buch Cover

Raus aus der Zuckerfalle!

Du fühlst dich deinem Heißhunger auf Süßes machtlos ausgeliefert? Hier sind vier erprobte Tipps der "Glucose Goddess" Jessie Inchauspé, um dem Verführer Zucker besser die Stirn zu bieten. Weiterlesen...

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Also Zucker vermeiden? Welche Superpower hättest du als „Glucose Goddess“ gern, um für stabile Glukosewerte zu sorgen?

Zucker ist großartig. Aber es kommt auf die Menge und auf die richtige Reihenfolge beim Essen an, um es dem Körper leichter zu machen, Glukose zu verarbeiten. Mit Superkräften würde ich als Erstes wahrscheinlich die Kühlschränke der Menschen ausmisten. Fruchtsaft oder süße Frühstückslebensmittel – diese sind eine Erfindung der Lebensmittelindustrie, bei den meisten Kulturen gab es aus gutem Grund keine „Desserts“ am Morgen – würde ich verschwinden lassen und in herzhafte Frühstückslebensmittel verwandeln. Das würde schon sehr helfen.

Was ist ein „falsches“ Frühstück im Sinne des Blutzuckerspiegels?

Nehmen wir ein veganes, glutenfreies Granola. Man kauft’s, weil man sich denkt: „Oh, ich tue was Gutes für meine Gesundheit.“ Aber Granola ist oft voller Süßungsmittel und Trockenfrüchte. Das alles treibt den Blutzuckerspiegel unnötig in die Höhe … Ich will den Leuten beibringen, auf die Verpackung zu schauen und zu sagen: „Okay, da drin sind Ballaststoffe, Eiweiß, Fett, Zucker. Ich weiß, was das mit mir machen wird.“

Und was wäre ein ideales Frühstück?

Ideal ist was Herzhaftes. Bei mir gab’s heute zum Beispiel zwei Spiegeleier mit Brokkoli und Rindfleisch – das waren Reste vom Abendessen.

Bevor wir näher eintauchen, lass uns kurz über deine persönliche Geschichte sprechen. Alles begann mit einem CGM (Continuous Glucose Monitor), einem münzgroßer Sensor auf der Haut, der den Blutzucker konstant misst. Du musstest ihn zwei Wochen für ein Arbeitsprojekt tragen. Was war ein Aha-Moment für dich?

Ich hatte über zehn Jahre immer wieder mit meiner mentalen Gesundheit zu kämpfen. An einem Tag ging es mir nicht gut, und bei der Auswertung des Glukose- Trackers sah ich einen extrem hohen Anstieg. Ich hatte Donuts zum Frühstück gegessen und kombinierte: „Oh, Moment mal! War das vielleicht der Auslöser? Besteht ein direkter Zusammenhang zwischen der Nahrung und meinen Stimmungstiefs?“ Ich war erstaunt, wie viele Studien ich zum Thema finden konnte, die das bestätigten. Aber niemand schien darüber zu sprechen … Das war der Anfang des Ganzen.

Ist so ein CGM-Tracker für jeden ratsam? Trägst du selbst noch einen?

Wenn’s jemanden interessiert, klar, warum nicht ausprobieren? Aber eigentlich braucht man ihn nicht, wenn man die entsprechenden Glukose-Tipps beherzigt. Dazu kommt: Die Datenmenge kann überwältigend sein, es benötigt einiges an Hintergrundwissen, um keine falschen Schlüsse zu ziehen. Ich selbst trage vielleicht alle sechs Monate einen CGM, um Tests zu machen, die ich dann auf Instagram anhand von leicht verständlichen Grafiken veranschauliche.

Um deinen Tipps vorab einen Kontext zu geben: Was ist eine Glukosespitze überhaupt?

Eine Glukoseanstieg ist erst mal ein ganz normaler Vorgang. Essen wir Zucker – etwa als Obst, also Fruktose, als Schokokeks, das wäre Saccharose, oder als stärkehaltige Lebensmittel wie Brot, Nudeln, Reis, Kartoffeln, Haferflocken –, dann geht der Level hoch. Der Körper weiß: Er muss die Glukose aufnehmen und speichern. Nach diesem Prozess fällt der Glukosespiegel wieder ab. Problematisch wird es dann, wenn der Körper mehr Zucker bekommt, als er eigentlich braucht – und wenn der Anstieg sehr schnell passiert. Rapider Anstieg, rapides Abfallen, das schadet den Zellen am meisten.

Wie kann man das verhindern?

Indem man dem Körper Glukose auf eine Weise zuführt, die die Kurve eher flach hält. Das klappt mit simplen Tricks, die ich bewusst nicht „Ernährungsregeln“ nenne, weil das zu starr klingt. Ich sage lieber „Hacks“: Es ist gut, wenn man sie beherzigt. Aber wenn man hin und wieder darauf vergisst, ist das auch kein Problem. Hack Nummer 1 – einer der wichtigsten – lautet: „Iss in der richtigen Reihenfolge.“

Was soll demnach zuerst in den Mund wandern?

Das Gemüse! Danach die Eiweiße und das Fett. Und zum Schluss erst Stärke und Zucker. Wie viel oder wie wenig Zeit dazwischenliegt, spielt dabei keine Rolle. Unseren Verdauungstrakt kann man sich wie ein Waschbecken vorstellen: Was zuerst ins „Abflussrohr“ fließt, hat Auswirkungen auf die weiteren Abläufe im Körper.

Was macht Gemüse so besonders, dass es als Erstes gegessen werden sollte?

Gemüse enthält Ballaststoffe, und die haben die Fähigkeit, sich im Darm wie ein schützendes Netz auszubreiten. Dieses Netz verlangsamt, wie schnell Glukosemoleküle in den Blutkreislauf gelangen. Angenommen, eine Mahlzeit besteht aus Gemüse, Fleisch und Reis: Wenn wir zuerst das Gemüse essen, danach das Fleisch und dann erst die stärkehaltige Beilage, dann bleibt die Glukosekurve vergleichsweise flach. Man isst also das Gleiche, was man sonst auch gegessen hätte, aber die Kohlenhydrate nach hinten zu schieben kann den Blutzucker-Anstieg um 70 Prozent reduzieren. Unsere Bauchspeicheldrüse produziert dadurch weniger Insulin, und in der Folge schalten wir schneller in den Fettverbrennungsmodus.

Deine Follower zerlegen Sandwiches in ihre Einzelteile und essen z. B. die Gurkenscheiben und den Salat zuerst. Andere gönnen sich vor einem Restaurantbesuch Brokkoli …

Ja, mir schreiben auch Eltern, dass sie beim Kochen ihren Kindern gerne rohe Karotten oder Gurkenscheiben zustecken. So wird Gemüse gegessen, bevor die Mahlzeit beginnt, und der Hack wird an die ganze Familie weitergeben.

Was tun bei Eintöpfen, Risotto oder Pasta, wenn alle Zutaten schon vermanscht sind?

Für die gibt’s Trick 2 – oder einen der vielen anderen Hacks, je nachdem, was gerade für einen passt. Trick 2 lautet: „Füge eine Gemüsevorspeise zur Mahlzeit hinzu.“ Einen kleinen grünen Salat. Gegrilltes oder eingelegtes Gemüse. Grünkohl mit Sesamöl. Und dann kann man den Rest der Mahlzeit normal genießen.

Weg mit dem Brotkorb? Ja, statt Brot lieber einen Salat. Ich bin Französin, ich liebe Kohlenhydrate, sie sind ein wunderbarer Teil unserer Kultur. Aber man kann sie auch auf weniger schädliche Weise essen – halt einfach später oder als Nachtisch. Apropos Dessert: Es ist besser, Süßes direkt im Anschluss an die Mahlzeit zu essen als im Alleingang ein paar Stunden später.

„Bekleide deine Kohlenhydrate“ – nächster Tipp. Was bedeutet das?

Es heißt: Wenn du Stärke oder Zucker isst – etwa Nudeln oder Brot –, solltest du versuchen, sie nicht „nackt“ zu essen, sondern mit Ballaststoffen, Eiweiß oder Fetten zu kombinieren – z. B. ein Brot mit Hummus, Gurke und Käse. Das verhindert, dass die Glukose aus den Kohlenhydraten zu schnell in deinen Blutkreislauf gelangt.

Und da spielt die Reihenfolge plötzlich keine Rolle mehr?

Na ja, das Schlechteste in Sachen Blutzucker wäre, das Brot allein zu essen. Als beste Option gilt: eine Gemüsevorspeise, danach Eiweiß und dann das Brot. Der Tipp „Bekleide deine Kohlenhydrate“ liegt also in der Mitte. Es geht immer um das Spektrum.

Du sagst auch: „Langsam essen und keine Frucht-Smoothies.“ Wieso?

Nehmen wir als Beispiel einen Apfel. Ich kann ihn als Ganzes essen. Oder aber ich gebe den Apfel in den Mixer. Dasselbe Lebensmittel, dieselben Moleküle, dieselbe Menge Zucker. Aber beim ganzen Apfel, den wir kauen müssen, wird die Glukose langsamer im Körper ankommen als beim Smoothie. In pürierter Form nimmt der Blutkreislauf die Glukose schneller auf, und es kommt zu einem ruckartigen Anstieg.

Du rätst auch zu verdünntem Apfelessig. Wie lange vor der Mahlzeit soll dieser getrunken werden?

Ein Esslöffel Essig in einem Glas Wasser, etwa 10 oder 20 Minuten vor einer Mahlzeit getrunken, kann den Glukoseanstieg um 30 Prozent reduzieren. Ich mache das gerne vor Pasta oder Schokokuchen. Manche Leute hassen den Geschmack oder fürchten Sodbrennen und verzichten darauf – was okay ist. Jeder entscheidet, welcher Trick gerade am besten passt. Mich hat bei meinen Recherchen jedoch überrascht, wie viele klinische Studien es dazu gibt und dass Essig mitunter genauso stark wirken kann wie Medikamente, die Menschen mit Diabetes verschrieben werden.

Glukose-Trick Buch Cover
Die Biochemikerin Jessie Ichauspé weiß, wie man Glukosespitzen in den Griff bekommt.

Heyne Verlag

Buchtipp:

Neben Jessies Bestseller „Der Glukose-Trick“ gibt es auch „Der Glukose-Trick – das Praxisbuch“ (beide Heyne Verlag) mit vielen Rezeptideen. Mehr Info: jessieinchauspe.com