In Partnerschaft mit

Carlos ist einer, den eigentlich so schnell nichts schreckt. Ein waschechter Carioca (= Rio-de-Janeiro-Geborener) mit behäbigem Körper und freundlichem Gemüt. In einem früheren Leben war er Steueranwalt bei PricewaterhouseCoopers. Heute, mit Ende 30, ist er vor allem eines, nämlich entspannt.

Carlos war früher Steueranwalt. Heute ist er vor allem eines, nämlich entspannt.

Als ihm der Paragrafenritt zu mühsam wurde, schmiss er seinen Job hin und eröffnete eine Jugendherberge. Danach ging er auf Reisen, einmal quer durch die Welt. Er spricht neben Portugiesisch auch Englisch, Spanisch und Französisch und ist einer, den man um Geheimtipps in Rio fragt – um am Ende mehr als schöne Strände und versteckte Wasserfälle zu entdecken.

Anzeige
Anzeige

40 Autominuten von der geschäftigen Copacabana entfernt – und laut Landkarte noch immer in Rio de Janeiro-Stadt – standen wir also gemeinsam an einem naturbelassenen Strand, den ich nie im Leben alleine gefunden hätte.

Wir standen an einem naturbelassenen Strand, den ich nie im Leben alleine gefunden hätte.

Malerische Felsen, an denen die Gischt hoch spritzte. Rundherum tropischer Dschungel, ein paar Affen und dann … das. Carlos drehte sich weg. „Ich schau nicht hin“, sagte er. „Es ist nicht gut, da genau hinzuschauen.“ – „Was meinst du, Carlos?“, fragte ich verwundert. „Was ist das?

Anzeige
Anzeige

‚Es ist nicht gut, da genau hinzuschauen‘, sagte Carlos.

Waltraud Hable an einem Strand nahe Rio

Bild: Waltraud Hable

Auf einem großen Stein lag ein Geschirrtuch aus Leinen ausgebreitet. Darauf befanden sich fein geschnittene grüne Chili-Ringe und etwas, das aussah, wie Kügelchen aus Tapiokamehl (Anm. d. Red.: geschmacksneutrale Stärke, die aus der Maniokwurzel hergestellt wird). Umrandet war das Arrangement von ein paar weißen Kerzen, halb abgebrannt, der Docht durch den Wind längst erloschen.

Candomble-Ritual

Bild: Waltraud Hable

Black Magic“, sagte Carlos. „Schwarze Magie. Was du hier siehst, gehört zum Candomblé, dem brasilianischen Schamanismus. Der hat seine Wurzeln in Westafrika, der Heimat der Sklaven, die nach Brasilien verschifft wurden.“ – „Und die Chili-Ringe und die weißen Kugeln sind was?“, fragte ich. „Opfergaben für die Orishas, die Naturgötter im Candomblé.“ - „Ernsthaft?“, hakte ich nach und schnüffelte neugierig in den Büschen herum, um dort noch mehr Leinentücher mit unerklärlichem Obst- und Gemüseinhalt zu entdecken. „Warum legt man das Zeug hier am Strand ab?“ – „N-a-t-u-r-g-ö-t-t-e-r. Meer. Wind. Elemente“, meinte Carlos nur. Ah ja.

,Black Magic‘, sagte Carlos. ‚Schwarze Magie. Was du hier siehst, gehört zum Candomblé, dem brasilianischen Schamanismus.‘

Candomblé ist eine Wissenschaft für sich“, führte Carlos weiter aus. „Ich kenne mich damit nur am Rande aus, aber die hier abgelegten Kräuter und Pflanzen sind Teil eines Rituals, das dazu dient, Menschen von negativer Energie zu reinigen. Solche Rituale dauern meist ewig, die Zeremonienmeister tanzen sich in Trance, damit sich die Götter in diesem Zustand ihrer Körper bedienen können. Ich habe mal gehört, man legt die Kräuter, die zur Reinigung dienen, danach für die Vögel raus. Diese tragen die negative Energie in die Lüfte, also in neue Sphären, und verwandeln sie in positive Energie. Energie ist nicht etwas, das verschwindet; sie wandelt sich, wird zu etwas Neuem, und die Natur und die Vögel tragen dazu bei.

Strand nahe Rio

Bild: Waltraud Hable

Aber warum willst du dir die Sache nicht näher anschauen?“, fragte ich. „Hast du Angst, dass die negative Energie auf dich überspringt?“ Carlos, der große, starke Mann, den nichts umzuhauen schien, wirkte plötzlich, als wäre ihm ein wenig unbehaglich. „Ach komm schon, Carlos, du bist doch Katholik, du glaubst ja gar nicht an Orishas und Candomblé“, lachte ich. – „Aber andere tun es“, gab er nachdenklich zurück. „Und es wird schon was dran sein an der Sache. Mein Zugang ist: Ich lasse die Opfergaben einfach in Ruhe, dann lassen sie mich hoffentlich in Ruhe.

Carlos, der große, starke Mann, den nichts umzuhauen schien, wirkte plötzlich, als wäre ihm ein wenig unbehaglich.

Während wir zurück zum Auto wanderten, konnte ich nicht umhin zu denken, wie wenig ich doch über Rio de Janeiro wusste, obwohl ich wochenlang hier Station bezogen hatte – und wie viele Paralleluniversen in dieser Stadt existierten. Ich lebte in meiner geschützten Strand-Sonne-Sport-Samba-Blase, während drei Straßenzüge von meiner angemieteten Wohnung, zwischen Copacabana und Ipanema, eine Favela und ein komplett anderes Leben lag.

Und jetzt Candomblé! Diese Naturreligion war mir vorher noch nie untergekommen, ich hatte Rio für durch und durch katholisch gehalten. Doch die Anhänger von Candomblé haben die Missionare der Kolonialzeit geschickt ausgetrickst. Obwohl afrikanische Riten bis in 1970er-Jahre polizeilich verfolgt wurden und die Kirche sich gegen die Vielgötterei stellte, wurde Candomblé munter weiter praktiziert. Man gab einfach zu Protokoll, die Zeremonien seien dazu da, um katholische Heilige anzubeten, auf afrikanische Art eben. Erst später dämmerte den Bischöfen und der Exekutive, was wirklich Sache war.

Candomble-Gruppe

Bild: Getty Images

Während ich also am Strand meinen Winterspeck abjogge und dem schönen Leben fröne, tanzen sich nachts nur wenige Kilometer entfernt Afrobrasilianer in Trance, zünden Kerzen an und tragen Opfergaben in die Natur hinaus. Das System der Orishas ist extrem vielschichtig – es gibt zu jeder Gottheit hunderte von Legenden. Und je nach Lebenssituation und Alter wendet man sich einer anderen Gottheit zu, um sein Axé, seine positive Energie, zu stärken.

Candomble-Ritual

Bild: Waltraud Hable

Auch wenn Carlos nicht hinsehen wollte, ich habe trotzdem ein Foto von den Opfergaben gemacht. Nicht, um böse Geister auf ein Foto zu bannen. Sondern um die Schönheit, die Verrücktheit und die wunderbare Diversität dieser Welt einzufangen. WEITER: Waltraud zieht in den südafrikanischen Busch.