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Und während die Hüften schwingen, die Füße steppen, der Rhythmus selbst Schüchterne aus der Reserve lockt, gelingen dem Gehirn spielerisch Höchstleistungen. Also los und Tanzen lernen, es macht sich bezahlt.

Ein Geschenk für den Kopf

Es gibt ein paar Gesetze, die für jede Party gelten: Irgendwer verliert immer seine Schlüssel, irgendwann sind immer alle in der Küche, und irgendwer wird sich vom ersten Song bis die Sonne aufgeht nur im Sitzen bewegen, und zwar, selbst wenn es „It’s Raining Men“ oder „Dancing Queen“ oder „YMCA“ spielt, also Songs, die im Grunde jeden vom Hocker reißen. Das Phänomen des Sitztanzes ist bei uns sehr weit verbreitet. Es ist eng verwandt mit dem Phänomen des An-der-Bar-Lehntanzes. Vor allem natürlich Männer, aber auch immer mehr Frauen sind ungeheuer versiert darin, zu tanzen, ohne wirklich zu tanzen. Sich zur Musik zu bewegen, ohne wirklich den ganzen Körper zu nutzen. Dabei zu sein, ohne wirklich die Hände in die Höhe zu reißen, die Hüften zu schwingen und sich um die eigene Achse zu drehen.

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Ein Samba für die Synapsen

Wir leben in einer sonderbaren Welt: Im Fernsehen erreichen Tanzshows regelmäßig ein Millionenpublikum, privat sind die Mitteleuropäer tanzfaul. Kaum jemand, der älter ist als 25, tanzt jede Woche, und kaum jemand, der jünger als 70 ist, macht das gemeinsam mit einem Partner. Laut einer Umfrage des Marktforschungsinstituts Sinus aus dem Jahr 2017 tanzen zwar immerhin 68 Prozent der Österreicher hin und wieder, 22 Prozent behaupten sogar, dass sie sehr gut darin wären. „Insgesamt jedoch gilt: Wir tanzen alle viel zu wenig“, sagt Julia Christensen. Sie sagt das als Tangotänzerin, aber auch als Neurowissenschaftlerin, die sie wurde, nachdem ein Unfall ihre Karriere als Ballerina beendet hatte.

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Wir tanzen alle viel zu wenig.

Julia Christensen, Tangotänzerin und Neurowissenschaftlerin

Das Tanzen steht im Mittelpunkt ihrer Forschungsarbeit: Sie ermittelt, was es in unserem Gehirn auslöst, wie es sich auf unseren Geist auswirkt, auf unseren Körper und unser Wohlempfinden. Gemeinsam mit ihrem Kollegen Dong-Seon Chang hat sie ihre Erkenntnisse in dem Buch „Tanzen ist die beste Medizin“ zusammengefasst. Tanzen lernen ist also nicht nur ein großes Freizeitvergnügen, sondern es hat auch enorme gesundheitliche Nebeneffekte.

„Wenn wir tanzen, ist unser Gehirn mit drei komplexen Dingen gleichzeitig beschäftigt: mit Bewegung, Berührung und Musik“, sagt Julia Christensen. Keine andere Beschäftigung aktiviert derart viele verschiedene Bereiche unseres Gehirns gleichzeitig. Egal ob wir uns bei einem Massenrave selbst verlieren oder dank einer Polka am eigenen Leib erfahren, was Fliehkräfte sind – Tanzen ist die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Erfahrungen. Wir nutzen den eigenen Körper und spüren den von anderen Menschen; wir bewegen uns im Raum und schätzen ab, was die anderen als Nächstes tun werden. Wir müssen beim Tanzen lernen, zumindest manchmal, Schrittfolgen umzusetzen, Gleichgewicht und Haltung zu bewahren; wir erfahren die Musik, die Emotionen, die sie auslöst, und wie sie unsere Fantasie in Gang setzt. Und wir schaffen es, all das zu koordinieren, ohne dass es sich wie harte Arbeit anfühlt, sondern nach dem genauen Gegenteil: Tanzen ist Glück, das uns mit schier unerschöpflicher Energie bis in die Trance tragen kann.

Das alles bleibt nicht ohne Folgen – Tanzen bringt unseren Kreislauf in Schwung, fördert unsere Kondition, formt unsere Muskeln und stärkt unser Immunsystem und:

  • Es hebt unsere Stimmung, weil es dazu beiträgt, dass wir Glückshormone ausschütten, während wir gleichzeitig das Stresshormon Cortisol durch das Tanzen abbauen.

  • Es hilft, uns selbst zu erfahren, was Studien zufolge wiederum unser Selbstwertgefühl erhöht.

  • Es hält uns ungemein beweglich, siehe Mick Jagger, 76, oder Peter Kraus, mittlerweile 80 und immer noch mit einem Hüftschwung wie ein junger Elvis Presley ausgestattet.

Rhythmus steckt in den Genen

Es stärkt aber genauso die Beweglichkeit unseres Gehirns. Tanzen verringert das Risiko, an Demenz zu erkranken – um 76 Prozent, das ergab zumindest eine amerikanische Studie aus dem Jahr 2003. Zum Vergleich: Laut der gleichen Studie verringert Lesen das Demenzrisiko nur um 36 Prozent, Kreuzworträtsel-Lösen auch nur um 45 Prozent.

Tanzen eignet sich aber nicht nur zur Prävention, sondern auch als unterstützende Form der Therapie.

Peter Dal-Bianco, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie

„Tanzen zu lernen eignet sich aber nicht nur zur Prävention, sondern auch als unterstützende Form der Therapie“, sagt Peter Dal-Bianco, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie in Wien und Präsident der Österreichischen Alzheimer Gesellschaft. Beim Tanzen können etwa an Demenz erkrankte Menschen ihre Emotionen ausdrücken, ohne Gefahr zu laufen, sich zu blamieren. „Erkrankte Menschen fürchten sich, ständig korrigiert zu werden, wenn sie sprechen, und verstummen dann“, sagt Dal-Bianco. Beim Tanzen fällt dieser Druck weg; es sei eine Form des Ausdrucks, der Kommunikation, auch wenn die Fähigkeit zu sprechen schon eingeschränkt ist. Und das sei befreiend, so Dal-Bianco.

Zugegeben, bei manchen Menschen sieht Tanzen so aus, als würden sie ihre Gliedmaßen wirklich sehr frei bewegen, nämlich ohne jegliche Kontrolle. Und genau die Angst, sich lächerlich zu machen, führt viele lieber an die Bar statt auf die Tanzfläche. Selbst Alzheimerexperte Dal-Bianco zögert oft: „Ich tanze gerne, aber es kostet mich auch Überwindung, weil ich negative Kritik fürchte.“ Dabei ist das Tanzen etwas zutiefst Menschliches. Es kann anthropologisch als Nebenprodukt des aufrechten Gangs gesehen werden und hat sich mit all seinen positiven Nebeneffekten auf unser Hirn, unseren Körper und unser Wohlempfinden evolutionär bewährt. Und es dürfte tatsächlich in den menschlichen Genen stecken: Eine Studie der Ungarischen Akademie der Wissenschaften ergab, dass schon Neugeborene ein Rhythmusgefühl haben. Den Rhythmus, wo man mit muss, gibt’s also wirklich: Wir wollen uns bewegen, sobald wir Musik hören. Also warum auch nicht tanzen lernen?

Tanzender junger Mann

Bild: Clemono Jeghuo/ Unsplash

Dass in Mitteleuropa seltener getanzt wird als anderswo, hat auch kulturelle Gründe. „Durch unsere Prägung sehen wir im Tanzen oft etwas Unanständiges, weshalb wir uns dann dafür offenbar schämen“, sagt Neurowissenschaftlerin Christensen. Anders als in anderen Weltregionen wurde der Tanz in Mitteleuropa über Jahrhunderte in strenge Schrittfolgen gepackt wie Frauenkörper in Korsetts. Umgekehrt wissen Anthropologen heute, dass bei weitem nicht alles, was frühe europäische Weltenkundler bei den Urvölkern in Afrika oder Lateinamerika als Paarungstanz identifiziert haben, wirklich sexuell konnotiert ist.

Tango erhöht den Ausstoß des Sexualhormons Testosteron, und zwar bei Männern wie Frauen.

Doch natürlich geht es beim Tanzen auch darum:

Man lernt einander kennen. Man stellt sich einander vor. Man spricht, ohne dafür Worte zu gebrauchen. Man nähert sich einander an, duckt oder stößt sich weg, fängt einander wieder ein und auf. Man führt oder man gibt Kontrolle ab. Vor allem Tango spielt mit all diesen Elementen. Nachweislich erhöht er den Ausstoß des Sexualhormons Testosteron, und zwar bei Männern und Frauen in gleichem Maße.

Nachgewiesen ist aber noch etwas anderes: Wie kein anderer Tanz kann Tango dabei helfen, die Symptome von Parkinson zu verringern. „Wer an dieser Krankheit leidet, braucht viele Impulse, die den Körper dazu bringen, sich richtig zu bewegen, um zum Beispiel einen Schritt überhaupt beginnen zu können. Der Tango mit seinen vielen Pausen und Tempowechseln macht genau das: Er setzt Impulse“, erklärt Julia Christensen.

Volkstanzgruppe

Bild: Theodor Vasile/ Unsplash

Dass Tanzen zu lernen Heilung verspricht, behauptet aber niemand. Tatsächlich ist die Erforschung seiner Wirkung noch jung. „Die Tanz-Demenz-Studien sind nicht groß genug, auch sind sie zu wenig vergleichbar, um daraus wissenschaftliche Erkenntnisse abzuleiten“, sagt Alzheimerexperte Peter Dal-Bianco. Er führt dies auch darauf zurück, dass Tanzen – anders, als das bei Medikamentenstudien der Fall ist – keine Lobby hat, die große, aussagekräftige Forschungen finanziert. Tanzen kann jedoch nicht nur große Intimität – wie beim Tango –, sondern auch für Gemeinschaftsgefühl sorgen. Wer schon einmal „Macarena“ getanzt hat, der weiß, wie leicht es Menschen fällt, sich synchron zu bewegen (und ein bisschen idiotisch dabei auszusehen). Er weiß aber vielleicht nicht, dass Gruppen, die zuvor miteinander getanzt haben, einander danach mehr mögen und sogar besser darin sind, Probleme zu lösen. Dass der Tanz den Gemeinschaftssinn fördert, wissen sogar Diktaturen wie Nordkorea für sich zu nutzen: Selbst die großen, gleichgeschalteten, streng durch choreografierten Militärmärsche sind gewissermaßen eine Form des Tanzes.

Das ist aber, was Tanzen betrifft, die große Ausnahme. Abseits von extremen Ausformungen überwiegen beim Tanzen die positiven Aspekte, die geniale Verbindung von Spaß und Interaktion, Musik und Bewegung, körperlichem und geistigem Training. Von Pflicht ist dabei nur äußerst selten die Rede. An der Sporthochschule in Köln ist das anders: Dort ist Tanzen für Studierende Pflicht. „Viele Studenten kostet es am Anfang Überwindung zu tanzen, aber viele können so tatsächlich eine Beziehung zum Tanz aufbauen“, sagt Denise Temme, Leiterin des Instituts für Tanz und Bewegungskultur der Deutschen Sporthochschule Köln. Sie sagt, dass das Tanzen mit seinen immer wieder neuen Schritten komplexe Lernvorgänge in Gang setzt und ein kreatives Tun fördert.

Frauen tanzen in einer Blumenwiese

Bild: Roxxie Blackham/ Unsplash

Es zahlt sich also aus, wieder öfter das Tanzbein zu schwingen. Für Körper und Geist. Das Alter, in dem man nur noch im Sitzen tanzen kann, kommt früh genug. Freilich: Tanzen macht selbst das Sitzen besser.