Hong Kong: Die Seele reist langsamer als dein Körper
Es heißt, auf langen Reisen kommt deine Seele später als dein Körper an.
Ich könnte viel über Hongkong erzählen, diese niemals schlafende Sonderverwaltungszone Chinas, in der ich Dinge gekauft habe, von denen ich nicht mal wusste, dass ich sie besitzen möchte (Stichwort: Handy-Accessoires). Ich habe mich hier dreihunderttausendmal verlaufen, im kleinsten Apartment meines Lebens gehaust (der Koffer parkte notgedrungen in der Dusche), wie durch ein Wunder nichts von den politischen Protesten mitbekommen und so viele tote Peking-Enten in den Schaufenstern der Restaurants hängen gesehen, dass ich das mit dem vegetarisch essen wieder sehr, sehr ernst nehmen will.
Doch all das beschreibt nicht, wie sich Hongkong für mich wirklich angefühlt hat. Es heißt, wenn man reist, braucht die Seele Zeit, bis auch sie ankommt. Der Körper mag gelandet und durch die Passkontrolle gewandert sein, aber das bedeutet noch lange nicht, dass man wirklich da ist.
Mein Innenleben schien jedenfalls auf der 9.000 Kilometer-Strecke zwischen Honolulu und Hong Kong irgendwo über dem Pazifik hängen geblieben zu sein – während ich orientierungslos nach Mitternacht aus dem Flughafen stolperte. In eine Szenerie, die sich wie ein Wong Kar-Wai Film anfühlte.
Die Luft war schwül, das Licht mystisch und weich, der Lärmpegel heruntergefahren, so als hätte man Schalldämmung über diese Nacht gelegt.
Vor mir bremste ein feuerrot lackiertes Taxi mit altmodisch kantiger Front und eckigen Scheinwerfern ab. Der Fahrer, eine Mischung aus Bruce Lee und Jackie Chan, rauchte mit abwesendem Blick, während ich mein Gepäck ächzend in den Kofferraum hievte. Die Muskeln unter seinem Muskelshirt und die Boxbandagen an seinen Handgelenken waren scheinbar nur zur Zierde da. Dann schepperte er mit mir durch die Nacht, in Richtung des Lichtermeers der Skylines und der Containerkräne am Hafen.
Entrückt studierte ich die chinesischen Neon-Schriftzeichen an den Hausfassaden. Die Brücken. Die Plattenbauten, in denen sich hinter jedem Fenster eine neue Lebensgeschichte auftat.
Mein seelisches Vakuum hatte den Raum für Gefühle aufgemacht, die ich bis dato nicht kannte.
Ich spürte die Stadt, ihre Gegenwart und ihre Geschichte, doch gleichzeitig hatte ich kein Zeitempfinden mehr. Vielleicht saß ich in diesem Auto schon drei Stunden. Vielleicht auch nur 20 Minuten. Wie ferngesteuert kurbelte ich das Autofenster herunter, hielt meine Nase in den warmen Nachtwind und suchte mit den Augen den Mond. Er leuchtete hell und klar.
Als der Fahrer mich an der vereinbarten Adresse absetzte und grußlos davon schoss, hatte ich keine Eile, das anonyme Apartment aufzuschließen, das ich vorab gebucht hatte. Ich setzte mich auf meinen Koffer, mitten im Hochhausdschungel von Wan Chai, einem der Zentren Hong Kongs, und atmete durch.
Ich war hier. Aber irgendwie auch nicht. Das war alles surreal.
Kaum hatte ich mich durch die Zahlenschlösser an Aufzug und Wohnung gekämpft, fiel ich voll bekleidet aufs Bett und in einen tiefen Schlaf.
Sieben Tage später reiste ich ab, wieder mitten in der Nacht. Der Regen hatte die dunklen Straßen von den Spuren des Tages reingewaschen, und während ich zum Flughafen chauffiert wurde, nahm ich plötzlich Details wahr, die mir die ganze Woche verborgen geblieben waren. Ich sah nicht nur was vor meinen Augen passierte, ich konnte die Dinge plötzlich in einen Zusammenhang bringen.
Der Zuckerwatte-Nebel in meinem Hirn lichtete sich. Ein Lächeln zog in meinem Gesicht auf.
Es war ein erleichtertes Leben. Sie war wieder da. Meine Seele hatte von den Weiten des Pazifiks zu mir zurückgefunden. Rechtzeitig für den nächsten Stopp: das Sterbe- und Armenhaus von Mutter Teresa in Kalkutta, Indien.
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