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Jessamyn, deine erste Yoga-Erfahrung war mit sechzehn – und du hast alles daran gehasst? Warum?
„Meine Tante hat mich damals zu Hot-Yoga mitgenommen, das bei vierzig Grad Raumtemperatur passiert. Ich weiß noch, ich habe an Körperstellen geschwitzt, von denen ich nicht einmal wusste, dass man dort schwitzen kann: in den Augenbrauen, an den Fingerspitzen, einfach überall. Ich war die Jüngste und obendrein die Dickste. Schwarze Menschen gab es sowieso kaum im Kurs. Alle schienen zu wissen, was sie zu tun hatten. Nur ich nicht. Nach einem Drittel der Stunde bin ich rausgestürmt und habe mir geschworen: Nie wieder! Insofern ist’s schon verrückt, dass ich heute Yogalehrerin bin. Aber ich bin dankbar für diese Erfahrung, die mir mehr Mitgefühl für andere Yogaanfänger gibt.“

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Mit 23 hat dich eine Freundin erneut zum Yoga geschleppt. Was war beim zweiten Versuch anders?
„Das Interessante war: Es war wieder Hot-Yoga. Die Hitze, die Übungsabfolgen, alles war gleich. Aber ich war anders.“

Inwiefern anders?
„Ich war älter und hatte ein besseres Verständnis dafür, dass es immer dort im Leben viel zu lernen gibt, womit man sich schwertut. Damals war ich an einem Tiefpunkt. Mein Studium machte mich unglücklich. Außerdem war eine langjährige Beziehung in die Brüche gegangen. In dieser Yogastunde dachte ich ständig: „Ich kann das nicht! Ich trage nicht die richtigen Klamotten! Ich passe hier nicht rein!“ Aber ein anderer Teil in mir meldete sich auch zu Wort und fragte: ‚Willst du dich die ganze Zeit selbst schlechtmachen? Du könntest es zumindest versuchen!’ Diese Idee, es einfach mal zu versuchen, war für mich bahnbrechend. Weil ich auch in anderen Bereichen des Lebens – immer, wenn ich auf ein Hindernis stieß – schnell sagte: Ich bin raus!“

Ich war die Jüngste und obendrein die Dickste. Schwarze Menschen gab es sowieso kaum im Kurs.

Jessamyn Stanley, Yogalehrerin

Gab’s einen speziellen Aha-Moment in dieser Yogastunde?
„Ja. Das war, als wir uns in der ‚Stuhl-Position“ im Spiegel anschauen mussten. Es gibt ganze Jahre meines Lebens, von denen ich keine Fotos von mir habe, weil ich Spiegel und Kameras komplett vermieden habe. Ich fand mich fett und hässlich. Aber in dieser Yogastunde musste ich hinschauen. Und obwohl es emotional aufwühlend und schmerzhaft war, spürte ich gleichzeitig eine gewisse Stärke in mir. Es war mehr Stärke als Schwäche da. Das hat mich angetrieben, bis zum Ende der Stunde zu bleiben.“

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Heute bist du Yogalehrerin und Autorin für Selbstakzeptanz. Auf Social Media thematisierst du, dass du aufgrund deines Körperumfangs oft unterschätzt wirst …
„Ja, in den ersten Jahren hab ich’s noch persönlich genommen. Ich hatte das Gefühl, meine Existenz rechtfertigen zu müssen oder mich durch extreme Posen wie den Kopfstand zu beweisen. Als dicke schwarze Person in einer Branche, die überwiegend von schlanken weißen Menschen repräsentiert wird, fühlt man sich nicht wirklich zugehörig. Aber mittlerweile sehe ich es so: Diese Leute, die abfällig reagieren, haben keine Ahnung, was Yoga ist. Denn jeder Mensch kann Yoga machen. Egal wie dein Körper geformt ist, wie alt du bist, wie du aussiehst oder woher du kommst: Sofern du atmest und lebendig bist, kannst du Yoga praktizieren. Wenn du einen Körper hast, hast du automatisch auch einen Yoga-Body – sogar wenn du im Rollstuhl sitzt. Yoga, das sind nicht nur Posen. Es ist vor allem eine Lebensphilosophie. Es geht darum, die verschiedenen Teile von dir, die keinen Sinn ergeben oder konfliktbeladen sind, zu vereinen.“

Oft hört man: Ich würde ja gerne, aber ich bin nicht gedehnt genug, ich habe eine Verletzung, ich muss erst ­fitter werden … Was entgegnest du?
„Umarme das, was dich einschränkt, anstatt es abzulehnen.“

Leichter gesagt als getan …
„Ich weiß. Kurz nach meinem Yoga-Start habe ich mir bei einem Treppensturz die Schulter verletzt. Stellungen wie der herabschauende Hund oder der Vierfüßlerstand waren damit nicht mehr möglich. Damals habe ich begonnen, mich in die Thematik einzulesen: Wie funktioniert der Schultergürtel? Bei welchen Asanas lastet kein Gewicht auf den Schultern? Würden Blöcke, Gurte oder Polster helfen? Was ich sagen will: Wo immer das Problem liegt – schwache Handgelenke oder Knie, Rückenschmerzen, ein steifer Nacken –, schau dir an, wie die Knochen, Muskeln, Sehnen und Bänder zusammenspielen. Anstatt immer gleich alles reparieren zu wollen, akzeptiere die Grenzen, die dein Körper dir im Moment setzt – und arbeite damit.“

Jessamy Stanley, Yogalehrerin
Die US-Amerikanerin Jessamyn Stanley, 37, betreibt das Online-Yogastudio theunderbelly.com

Löwenzahn Verlag / Christine Hewitt

Dein Online-Yogastudio „The Underbelly“ setzt ebenfalls auf Akzeptanz. Du machst den Bauch, den viele oft einziehen, zum Mittelpunkt. Wie kann man sich das vorstellen?
„Ich lasse den Bauch entspannt über meine Yogahose hängen und binde ihn in die Übungen ein. Das Studio heißt deshalb The Underbelly (deutsch: der Unterbauch), weil wir es nach dem zartesten Teil des Körpers, den man oft zu verstecken versucht, benennen wollten. Es gibt aber auch so etwas wie den emotionalen Unterbauch, für den wir uns schämen. Das Schöne an unserer Gemeinschaft ist: Du kannst schamfrei du selbst sein. The Underbelly ist ein Online-Studio. Das heißt: Dir kann bei einer Pose ein Furz oder ein Rülpser auskommen, du kannst weinen, falls gewisse Gefühle hochkommen. Es ist ein sicherer Raum.“

Du rätst Anfängern also erst mal zu Online-Yoga?
„Ja, wenn man Angst hat: „Alle sind besser, gelenkiger oder ftter als ich“, dann kann das eine gute Möglichkeit sein. Es muss gar kein kompletter Onlinekurs sein. Man kann sich auch ein 10-Sekunden-You-Tube-Video ansehen und beschließen: ‚Diese eine Stellung werde ich ausprobieren.’ Dazu braucht’s auch keine Yogamatte oder spezielle Kleidung. Einfach losstarten. Je weniger Druck man auf sich selbst ausübt, desto besser.“

Aber lernt man es so richtig, ohne Korrekturen der Lehrer?
„Wichtig ist, mit der Neugierde eines Kindes an die Sache heranzugehen. Kinder machen sich keine Gedanken darüber, wenn sie mal hinfallen. Sag dir einfach: ‚Ich werde diese eine Pose einnehmen, und das ist mein Yoga.’ Und irgendwann kommt vielleicht: ‚Okay, ich werde zwei Stellungen probieren – oder die Sonnengruß-Abfolge.’ Es geht nicht darum, alles exakt auszuführen, sondern sich heranzutasten, von wegen: ‚Ich weiß, was ich mache. Ich fühle mich wohl dabei. Ich schafe das.’ Angst entsteht, wenn wir versuchen, gewisse Dinge wie Scham oder Nervosität nicht zu fühlen. Wer sich hingegen selbst die Erlaubnis erteilt, zu fühlen, was da ist, wird bald merken, wie er sich besser fühlt – und bereit sein, an einer ganzen Unterrichtsstunde teilzunehmen.“

Also geht’s viel darum, den inneren Kritiker zum Schweigen zu bringen. Was hilft dir dabei?
„Ich fürchte, ich habe meine innere Kritikerin nie wirklich zum Schweigen gebracht. Es gibt einen Teil von mir, der sehr, sehr kritisch und gemein sein kann. Aber ich weiß auch: Ich bin nicht dieser Fiesling, ich stehe außerhalb davon. Ich sehe meine innere Kritikerin wie mein 13-jähriges Selbst. Sie spricht laut und sagt manchmal richtig hasserfüllte Sachen – aber sie hat noch keinen Führerschein, also wird sie dieses Auto nicht lenken. Ich sage ihr: ‚Ich höre dich. Aber was ich vor allem höre, ist, dass du Angst hast.“ Jede Art von Traurigkeit oder Wut entsteht immer aus einer Mentalität der Knappheit heraus.“

Anstatt immer gleich alles reparieren zu wollen, akzeptiere die Grenzen, die dein Körper dir im Moment setzt – und arbeite damit.

Jessamyn Stanley, Yogalehrerin

Auf der Yogamatte wird man mit vielen Dingen gleichzeitig konfrontiert: körperlichen Limits, inneren Glaubenssätzen, Versagensängsten, Unruhe. Wie bleibt man trotzdem motiviert?
„Ich denke, man muss es wirklich wollen. Wenn Yoga zu einem weiteren Punkt auf der Checkliste wird – dann sollte man es lieber lassen. Ich hab’s damals gebraucht, weil ich meinen Weg verloren hatte und mich wieder mehr spüren wollte. Yoga war ein willkommener Ausgleich zu dem Chaos rundherum: das Beziehungs-Aus, der Tod einer Tante … da kam einiges zusammen.“

Du sagst: Wer sein Gleichgewicht im persönlichen Leben nicht aufrechterhalten kann, wird Schwierigkeiten haben, auf der Matte sein Gleichgewicht zu finden. Wenn ich also einen schlechten Tag habe, wird’s auch mit dem Yoga schwierig?
„Ich denke schon. Aber es heißt im Umkehrschluss auch: Wenn du die Balance auf der Matte findest, wirst du Balance in anderen Bereichen deines Lebens erleben. Man kann das ganz leicht selbst testen, indem man versucht, auf einem Bein zu stehen. Oft beginnt das Bein dann zu zittern und zu wackeln. Man will aber – auf Teufel komm raus – eine gerade Haltung beibehalten.“

Und das macht die Sache schwieriger, oder?
„Ja. Was viele nicht begreifen, ist, dass Gleichgewicht keineswegs Stillstand bedeutet. Alles im Leben ist ständig in Bewegung. Wer sich selbst die Erlaubnis erteilt, zu zittern und zu wackeln, verabschiedet sich von perfektionistischen Vorstellungen. Wackeln bedeutet nicht, dass du etwas falsch machst. Es ist einfach ein Teil des Lebens.“

Es scheint tausend Yogastile zu geben. Wozu rätst du Anfängern?
„Kurse, die eine gleichmäßige Gewichtung von Yin- und Yang-Asanas haben, harmonisieren gut. Yin-Elemente sind eher langsam, es wird viel Wert auf Dehnung und das Halten einer Stellung gelegt. Yang-Elemente sind kraftvoller und dynamischer. Aber ganz ehrlich, es gibt nicht den einen richtigen Kurs. Ich rate dazu, einfach einiges auszuprobieren. Sollte dir ein Kurs nicht gefallen oder der Lehrer dich nerven – dann schau dir eine andere Yogarichtung an.“

Jessamyn Stanley, Yogalehrerin, Yogapose auf der Straße
Jessamyn Stanley macht sich in Vorträgen dafür stark, dass Yoga in der westlichen Welt inklusiver wird und sich alle willkommen fühlen – nicht nur schlanke, trainierte weiße Menschen.

Löwenzahn Verlag / Christine Hewitt

Yoga verspricht Gelassenheit und innere Stärke. Aber schnell bricht die Alltagshektik wieder über einen herein. Was hilft, das Gefühl zu verlängern?
„Das können Dinge wie Tagebuchschreiben sein. Oder dass man sich selbst eine der großen Fragen des Lebens stellt und in einer ruhigen Minute darüber nachdenkt. Ich habe Yoga anfangs nicht als spirituelle Praktik gesehen. Ich ging in den Kurs, kam heim, das war’s. Aber je länger man Yoga macht, desto klarer wird die Verbindung zwischen dem, was auf der Matte passiert, und dem Leben. Man entdeckt eine gewisse Zartheit und Weichheit in sich, die wir oft zu verstecken versuchen. Wirft mich etwas im Alltag aus der Bahn, dann frage ich mich: ‚Wenn ich auf der Matte die Balance verliere, was hilft mir da, und wie kann ich es hier anwenden?“’

Du kämpfst mit deiner Arbeit für Körperakzeptanz. Schnell fallen da Begriffe wie Body-Positivity oder Body-Neutrality.
„Ich glaube, man muss unterscheiden: Bei Body-Positivity geht’s um die Vorstellung, dass dein Körper wunderbar ist. Du musst ihn nicht ändern. Body-Neutrality hingegen propagiert die Idee, dass du nicht einmal über deinen Körper nachdenken sollst… dann geht’s dir gut.“

Und welche Ansicht vertrittst du?
„Mit Body-Neutrality tu ich mir schwer. Ich glaube nicht, dass es möglich ist, dem eigenen Körper gegenüber neutral eingestellt zu sein. Ob man nun von Body-Positivity, Körperakzeptanz oder Körperbefreiung spricht, ist mir prinzipiell egal. Wichtig finde ich vielmehr, an einen Punkt zu kommen, an dem wir mit unserem Körper okay sind. Denn dann können wir anfangen, einige der größeren systemischen Probleme anzugehen.“

Kannst du das näher erklären?
„Viele Ungerechtigkeiten in unserer Gesellschaft – zum Beispiel Diskriminierung aufgrund einer Behinderung – basieren darauf, wie wir aussehen. Aber wenn wir keine Gespräche mehr über unser Aussehen führen oder einfach anerkennen: ‚Jede Erscheinung ist okay’, dann wird es schwieriger, Ungleichbehandlungen systemisch zu installieren. Und es gibt durchaus Bewegung: Die Welt, in der ich aufgewachsen bin, war noch eine komplett andere als die meiner Nichten und Neffen. Als mein Buch ‚Every Body Yoga’ herauskam, fragte mich ein kleiner weißer Junge aufgeregt nach einem Autogramm. Und ich dachte nur: ‚In der Zeit unserer Großeltern hätten wir nicht einmal im selben Raum sein können.““

Wie können wir als Gesellschaft dazu beitragen, dass Inklusion nicht nur ein schickes Schlagwort bleibt?
„Indem wir erkennen: Im Aussehen eines Menschen stecken Geschichte und Weisheit. Egal welche Narben, welches Alter oder welche Hautfarbe du hast: Du bist so gemacht worden, damit du stark sein und deine Stärke auch der Welt anbieten kannst.“

Buchtipp: In ihrem Buch „Body Yoga“ (Löwenzahn Verlag) erzählt Jessamyn Stanley ihre eigene Reise in Sachen Körperakzeptanz und gibt 50 Fotoanleitungen für einfache Yogaposen zum Nachmachen. Jessamyns jüngstes Buch „Es ist ein Fulltime-Job, sich selbst zu lieben“ ist 2024 ebenfalls bei Löwenzahn erschienen.

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