Der Vordenker: Was kann Kant?
2024 ist ein Immanuel-Kant-Jahr: Vor 300 Jahren wurde der Philosoph in Königsberg geboren. Und prägt heute noch unser Weltbild wie kaum ein anderer. Kennst du deinen Kant? Eine Annäherung in 6 Punkten.
Eins. Es ist nicht so, dass Jürgen Wertheimer damals dabei war – der Professor an der Uni Tübingen ist 77 und deutlich nach dem Ableben Immanuel Kants 1804 geboren. Aber es liest sich beinahe so in den 24 Episoden, in denen Wertheimer, Doktor der Germanistik, in seinem Buch in das Leben des Philosophen eintaucht. In seine Denkstube, in den Hörsaal, auf Spaziergängen…
Was gut ist, denn: Kant im Original lesen schafft kaum einer. „Er hat quasi unlesbar geschrieben, da muss man nicht drumherum reden“, sagt Wertheimer. „Warum er dennoch diese überwältigende Resonanz erzeugt: Seine Texte vermitteln ein Versprechen. Ein Versprechen auf ein geschlossenes, kontrollierbares Weltbild in Zeiten der Auflösung.“
Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.
Immanuel Kant (1724 - 1804)
Zwei. Mit vier großen Fragen tasten wir uns durchs Leben. Kant hat sie im 18. Jahrhundert formuliert:
Was kann ich wissen?
Was soll ich tun?
Was darf ich hoffen?
Was ist der Mensch?
Das Schöne ist: Kant hat ein paar Antworten gleich mitgeliefert. Der Grundtenor: Die Lösungen liegen in jedem selbst. „Was kann ich wissen?“ zum Beispiel kontert der Professor der Logik und Metaphysik mit: „Sapere aude“. In der Übersetzung Kants heißt das: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ Und das war vor 250 Jahren ziemlich revolutionär. Denn damals dachte vor allem die Kirche und die Obrigkeit für das Volk. Und jetzt auf einmal sollten Menschen eine eigene Meinung haben, basierend auf eigenen, selbsterlangten Erkenntnissen? Allerdings, sagte Kant, denn: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.“
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Drei. Da ist noch so eine revolutionäre Kant’sche Formel, seine bekannteste: der kategorische Imperativ. Der beantwortet auch die zweite große Frage der Philosophie, „was soll ich tun?“. Nämlich: So leben, dass die Maxime des eigenen Handelns als Vorbild für andere dienen kann. „Was Kant nicht meint: Ich-bezogen zu agieren oder egomanisch“, sagt Jürgen Wertheimer. Das eigene Denken fordert immer den Abgleich mit dem gesellschaftlichen Rahmen, in dem man sich bewegt. Denn Chaos, so der Professor, habe Kant gescheut. „Alles bei ihm ist systemisch angelegt“, sagt Wertheimer, „sonst wäre er ja bei den Romantikern gelandet. Und die haben ihn gehasst und sie ihn.“
Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!
Immanuel Kant (1724 - 1804)
Vier. Von Globalisierung war Ende des 18. Jahrhundert noch nirgendwo die Rede, aber Immanuel Kant hat sie schon damals, na ja, sagen wir mal: vorausgeahnt. Er, der seine Heimatstadt Königsberg in 80 Lebensjahren nie verlassen hat, sprach vom „Weltbürger“, als kaum jemand wusste, wie groß diese Welt war. Kant forderte in der „Schrift zum ewigen Frieden“ nicht weniger als den Weltfrieden. Sein bestechender Gedanke: Wenn die Menschen es in ihren eigenen sozialen Gebilden mittels Vernunft und eigenem Denken mal schaffen würden, ein funktionierendes, friedliches Miteinander zu kreieren – warum dann nicht auch Staatengebilde untereinander? „Diese Schrift sollte man nicht einmotten, aber man muss sie massiv relativieren“, sagt Professor Doktor Wertheimer, der Kant-Flüsterer. Denn Kant hat vorausgesetzt, dass sich der Mensch in den dreihundert Jahren nach ihm zu einem vernünftigeren Wesen entwickeln würde. Wir wissen heute: nicht wirklich. „Wir müssen einfach konstatieren, dass wir nur ein bedingt denkfähiges Material sind“, sagt Wertheimer. „Oder wie Kant es sagte: Wir sind aus krummem Holz gemacht“.
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Fünf. Und heute? Was bedeutet der „Magier der Vernunft“, wie Jürgen Wertheimer ihn nennt, für uns? Einiges. Seine Aufforderung des eigenständigen Denkens, des Miteinander, der Würde des Einzelnen haben die Charta der Vereinten Nationen und die bundesdeutsche Verfassung mitgeprägt. Aber was würde er heute denken, in Zeiten, in denen Diktaturen mit ihren einfachen Lösungen attraktiver werden, in der Social Media den Boden gemeinsamer Fakten aufweicht, in der Künstliche Intelligenz uns das Denken abnimmt? „Die KI ist eine mindestens so große Revolution wie Kant“, sagt Wertheimer, „wir müssen aufpassen, nicht von ihr überrollt zu werden, denn sich eigene Denkprozesse durch Bequemlichkeit einfach zu ersparen – und das ist brandgefährlich“. Auch Social Media hat was kanthaftes, findet der Professor, schließlich gibt jeder seine Maximen preis und stellt sie in die Welt. „Wir sind mehr gefordert denn je, die neuen Kanäle vorsichtig zu nutzen“, sagt Wertheimer, „Verschwörungstheorien sind ja nichts anderes als der verzweifelte Versuch, die eigene selbstgebaute Wahrheit als absolut zu etablieren“.
Sechs. „Mich würde wahnsinnig interessieren, wie Immanuel Kant mit der Realität von heute umginge“, sagt Jürgen Wertheimer. „Er würde ganz sicher nicht das nachbeten, was er damals geschrieben hat. Er hätte stattdessen neue Prämissen entwickelt. Sehen Sie, alle seine Ideen hat er aufgeschrieben, ohne zu wissen, dass ein erster und ein zweiter Weltkrieg kommen würden, er wusste nichts von Industrialisierung und Globalisierung. Es bringt deshalb nichts, den alten Kant in unserer Zeit einfach herunterzubeten. Man muss gucken, wo er noch passt. Und wo man ihn neu denken muss.“
Buchtipp
Jürgen Wertheimer: „Immanuel Kant. Der Magier der Vernunft in 24 Episoden“, 276 Seiten, Benevento Verlag
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