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Ich bin niemand, der sich groß auf Dinge vorbereitet. Wozu auch? Man lernt am besten beim Tun. Aber bei dieser Ge­schichte... Da hatte ich dann doch Res­pekt. Immerhin scheinen Träume einen großen Teil meines Daseins auszuma­chen. Bis zu zwei Stunden träumt jeder Mensch pro Nacht, auch wenn wir uns in den seltensten Fällen daran erinnern können. Hochgerechnet verträumen wir sechs Jahre unseres Lebens. In diesem Bereich einfach herumpfuschen mit Klarträumen? Hm.

Zumindest sollte ich einmal klären: Was ist überhaupt ein Traum? Wikipedia sagt: „Träume sind eine besondere Form des Bewusstseins. Der Körper ruht, aber der Geist erlebt bewegte (und mitunter bewegende) Szenen.“

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Freud sah in dem sinnlich­halluzi­natorischen Geschehen versteckte Bot­schaften. Und er sah Sex. Eh klar. Für Oneironauten wiederum, soge­nannte Traumreisende, ist der Traum eine große Glücksquelle und eine neue Dimension des Bewusstseins. Und ich schätze, dieses Versprechen hat mich angefixt. Klar, träume! Seit ich einen Artikel zum Thema luzi­des Träumen gelesen habe, geht mir das Klarträumen nicht mehr aus dem Kopf.

Von einem Klartraum spricht man dann, wenn man sich mitten im Traum bewusst wird, dass man gerade träumt. Obendrein kann man als Träumender das Erlebte gestalten. Wobei’s nicht unbedingt wichtig ist, dass man Entscheidungen im Traum trifft, sondern dass man weiß, dass man eine Wahl hat. Wer luzid träumt, so heißt es, fühle sich mitunter wie Peter Pan oder Wonder Woman. Man könne fliegen, durch Wände gehen, Monster in niedliche Schweinchen oder Regenbögen verwandeln. Und das Beste: Jeder könne Oneironaut werden und seine Träume in eine neue Richtung leiten.

Die Idee des Klarträumens fasziniert mich aber auch aus einem anderen Grund: Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich als kleines Mädchen schon einmal luzid geträumt habe. Worum es damals ging – keine Ahnung. Aber ich weiß noch, die Euphorie über meine plötzlichen Superkräfte war so groß, dass ich selig grinsend aufwachte, und mein „Ich kann alles!“-Gefühl hielt über Stunden an.

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Kinder sind prinzipiell gute Klarträumer. Das Zentralinstitut für Seelische Gesundheit im deutschen Mannheim sagt: Jedes zweite Kind zwischen sechs und vierzehn Jahren träumt gelegentlich luzid. Die Ursache dafür liegt darin, dass Fantasie und Realität hier noch nicht so strikt getrennt sind; Kinder finden dadurch leichter Zugang in die Traumwelt als Erwachsene.

Wenn ich also früher meine Träume steuern konnte, warum sollte ich diese Fähigkeit nicht wieder auf leben lassen? Mein nächtliches Kopfkino könnte durchaus ein bisschen Führung gebrauchen. Denn meine Träume mögen zwar psychohygienisch wichtig sein, aber ein bisschen weniger Dramatik wäre für meinen Geschmack schon nicht schlecht: Mir fallen im Traum die Zähne aus; ich renne um mein Leben; ich plumpse aus großer Höhe irgendwo hinunter.

Oder ich sitze vor einer unlösbaren Rechenaufgabe. Auch ein wiederkehrendes Szenario: Ich finde keine Toilette... Darum das Klarträumen. Vielleicht kann ich ja als Oneironautin steuern, dass die Zähne im Mund bleiben oder eine Traum-Toilette auftaucht. Auf die Plätze, fertig, Abflug ins Träumeland.

Tag 1

Ich führe mir alles zu Gemüte, was ich zum Thema finden kann, und lerne schnell: Luzide Träume erlebt man am ehesten in der zweiten Nachthälfte, zur Morgendämmerung hin. Dann treten die REM-Phasen häufiger auf und dauern länger. REM steht für „Rapid Eye Movement“, was den schnellen Augenbewegungen des Schlafenden geschuldet ist. Obwohl in diesen Phasen der Körper quasi gelähmt ist und wir nur schwer aufzuwecken sind, ist das Hirn paradoxerweise fast so aktiv wie im Wachzustand. Auch unser Herz schlägt schneller als im Tiefschlaf, der Blutdruck steigt.

Erkenntnis Nummer zwei: Uff. Das Ganze wird anstrengend... Egal welche Quellen ich auch durchforste, letztlich ist die Grundaussage dieselbe: Wer klarträumen will, braucht Disziplin. Es geht um das konsequente Führen eines Traumtagebuchs. Um regelmäßige Realitychecks. Und man soll sich mit Methoden namens MILD, DILD und WILD vertraut machen. Hä? Mein Hirn streikt. Ich dachte, Klarträumen hätte mit Intuition zu tun, nicht mit einem gedanklichen Bootcamp ...

Tag 2

Ich beschließe, MILD, DILD und WILD erst mal links liegen zu lassen und mit dem Realitycheck zu beginnen. Der klingt, als könnte ich ihn bewerkstelligen. Fünf- bis zehnmal pro Tag soll ich mich fragen: „Träum ich oder wach ich?“ Auf der Straße. Am Computer sitzend. Beim Einkaufen im Supermarkt. Wenn etwas Überraschendes passiert oder ich einen Gefühlsausbruch habe. Alternativ kann ich mich auch zwicken. Oder versuchen, mit einem Finger meine Handfläche zu durchbohren.

Bleibt die Handfläche unversehrt, bin ich wach. Gleitet der Finger schmerzfrei durch die Haut, träume ich. Klingt gaga? Irgendwie ja. Aber ich glaube zu verstehen, worauf die Experten hinauswollen: Träume wirken für uns Träumende meist so real wie der Wachzustand. Die Traumumgebung ist aber höchst instabil. Buchstaben verschwimmen und verändern sich vor unseren Augen. Die Schwerkraft und andere physikalische Gesetze scheinen aufgehoben zu sein.

Wer den Realitycheck oft genug wiederholt, konditioniert sein Hirn darauf, bald auch schlafend die Frage aufzuwerfen: „Bin ich gerade wach, oder träume ich?“ – und die Chance, den Traum als Traum zu erkennen, ist höher. Als ich einer Freundin davon erzähle, fragt sie skeptisch: „Denkst du, das ist gesund, dieses ständige Infragestellen?“

Die Wiener Psychotherapeutin und Klartraumexpertin Dr. Brigitte Holzin­ger meint, dass der Reality­check bei psychisch instabilen Menschen, die bereits zur Realitätsverwirrung neigen, nicht die beste Idee sei. „Ich fühle mich gewapp­net“, sage ich. „Ich versuch’s einfach.“

Tage 3–7

Die Paprika im Gemüseregal bleibt gelb. Auch nach mehrmaligem Hinschauen. Der Busfahrer mutiert nicht zum Wer­wolf, obwohl er verdammt behaarte Unterarme hat. Das Werbeplakat preist weiterhin das Smartphone für einen unverschämten Preis an. Die Zahl wird auch beim zweiten Blick nicht kleiner. Realität, überall. Oder etwa nicht? Plötz­lich frage ich mich: „Was kann ich nicht sehen, obwohl es vielleicht doch da ist?“

Entnervt feuere ich mein Traumtagebuch in die Ecke. Luzides Träumen kann mich mal.

Waltraud Hable im Selbstexperiment

Tag 8

Das Alltagprüfen entwickelt sich lang­sam zur Gewohnheit. Auf zum nächsten Schritt: Traumtagebuch. Das soll man vor allem führen, um das eigene Traum­gedächtnis zu schulen. Ich lege ein Notiz­buch und einen Stift neben mein Bett. Auch die App „Dream-Sense-Memory“ von Traumforscherin Brigitte Holzinger, Leiterin des Instituts für Bewusstseins­und Traumforschung, lade ich auf mein Smartphone. Aber sie ist mir letztlich zu umständlich. Für die Erfassung aller Gefühle und Eindrücke während des Traums müssen viele Felder angeklickt werden.

Träume steuern

Bild: Anna Kliewer

Tag 9

Die erste Seite meines Traumtagebuchs bleibt leer. Obwohl ich geträumt habe und obwohl Experten raten: „Sofort nach dem Aufwachen alles aufschreiben.“ Sie raten auch, dabei ruhig liegen zu bleiben. Strecke man sich zu viel oder wandere man gar zur Toilette, zerfalle die Erinnerung wie eine Staubwolke – pooof! Ich bin bockig. Ich will nicht so schnell aus meiner Bettruhe gerissen werden... Entnervt feuere ich mein Traumtagebuch in die Ecke. Luzides Träumen kann mich mal.

Tage 10 –15

Aufgeben? Ich hasse es, wenn ich vorschnell aufgebe. Also ein neuer Versuch. Nach dem Weckerläuten schnappe ich mir widerwillig den Kuli. Das Niedergeschriebene macht zumindest deutlich: Ich sollte weniger Netflix schauen oder generell meine Bildschirmzeit reduzieren. Der Popkultur-Schmarrn, der nachts durch meinen Kopf geistert, ist peinlich entlarvend. „Ich bin bei den britischen Royals, werde immer zu Meghan Markle befragt, treibe im Pool“, vertraue ich meinem Traumtagebuch an. „Mein Computer ist in Einzelteile zerlegt, ich finde aber zu wenige Fragmente und weiß nicht, was wohin gehört.“ – „Suche ein Haus für einen Film mit Pierce Brosnan.“ Manches fühlt sich wie eine Fortsetzung an, als hätte ich es schon mal geträumt. Kann es sein, dass die Traumwelt ein Paralleluniversum ist, in dem ich ein Doppelleben führe?

Tag 16

Realitycheck: ist automatisiert. Traumtagebuch: nicht meine Lieblingsübung, aber ein paar Erinnerungen klaube ich täglich zusammen. Zeit für MILD, DILD, WILD – die Klartraum-Techniken. MILD steht für Mnemonic Induced Lucid Dream („gedächtnisinduzierter Klartraum“). Dabei geht’s, verknappt ausgedrückt, um Autosuggestion. Man fasst den Entschluss, einen Klartraum haben zu wollen, und sagt sich unermüdlich vor: „Das nächste Mal, wenn ich träume, will ich erkennen, dass ich träume.“

Gleichzeitig visualisiert man Träume, an die man sich erinnern kann (deshalb ist das Traumtagebuch so wichtig), als Klarträume. Was würde man tun? Wie würde sich das anfühlen? DILD, Methode Nummer zwei, ist eigentlich keine Methode. Es steht für Dream Initiated Lucid Dream und beschreibt, wie man einen normalen Traum (Trübtraum) in einen Klartraum umwandeln kann – durch Autosuggestion, automatisierte Realitychecks etc.

Und dann ist da noch WILD (Wake Initiated Lucid Dream), quasi die Königsdisziplin: Man gleitet vom Wachzustand nahtlos via Hypnose in einen Klartraum. Wichtig ist, dabei gänzlich still zu liegen.

Tage 17–21

Ich fühle mich wie gerädert. Ich mag zwar in den vergangenen Nächten sieben bis acht Stunden geschlafen haben – aber erholsam war das Ganze nicht. Kaum gehe ich ins Bett, fühle ich mich wie bei einer Prüfung. Ich versage in allem – in MILD, DILD, WILD –, während Oneironauten im Internet damit prahlen, wie einfach das Klarträumen sei. „Luzides Träumen scheint eine Erfindung von Kontrollfreaks zu sein, die auch im Schlaf nicht loslassen können“, schimpfe ich. „Der Eindruck könnte durchaus entstehen“, lacht Brigitte Holzinger, als ich ihr – wir haben ein Interview vereinbart – mein Leid klage.

Und Himmel, warum habe ich nicht früher mit dieser Frau gesprochen? „Diese Klartraumanleitungen sind sehr technokratisch“, sagt Holzinger. „Sie vermitteln den Eindruck, der Mensch sei eine Maschine. Dabei geht es beim luziden Träumen gerade ums Gegenteil. Im Traum bewegt man sich im Gefühl pur, in Bildern. Das kann beim Albtraum der Horror oder das Traurigsein sein – sollte man Albträume haben, kann man mit luzidem Träumen hier durchaus gegensteuern.

Aber vor allem kann man im luziden Traum auch pures Glück erleben. Es ist etwas, auf das man sich freuen sollte.“ „Was mache ich falsch?“, frage ich. „Traumtagebuch, Realitätschecks – das ist beides ein gutes Gedächtnistraining. Aber man muss sich auch von Herzen dafür entscheiden. Es scheint, als hätten Sie die Entscheidung, luzid träumen zu wollen, noch nicht getroffen. Viele Leute haben einen gewissen Selbstschutz, und dieser ist zu respektieren.

Im luziden Traum kann man pures Glück erleben. Es ist etwas, auf das man sich freuen sollte.

Luzides Träumen soll keine mühsame Psychotaktik sein, sondern eine Bereicherung.“ Holzinger rät zu Entspannungstechniken, um einen Einstieg in die Klartraumwelt zu finden: „Ich habe es nie WILD genannt, meine Lieblingsmethode ist eine Art Selbsthypnose. Man gleitet bewusster in den Schlaf hinein.“ Nachsatz: „Klarträumen lernt man prinzipiell auch leichter in der Gruppe.“

Klarträumen für Anfänger

Bild: Anna Kliewer

Tage 22–34

Okay, Gruppen-Meetings für Klarträumen sind aufgrund der Pandemie und meines aktuellen Aufenthaltsorts nicht möglich. Aber ich kann YouTube-Videos schauen, das simuliert das Ganze irgendwie auch. Ich höre Berichte, wie jemand im Traum durch ein Wunderland gesegelt sein will, und fühle Neid. Ich will das auch. Aber ich will im Schlaf nicht „funktionieren“ müssen. Eine Pattsituation. Ich versuche, an meiner Einstellung zu arbeiten. Meditiere. Versuche, mich auf das Unbekannte zu freuen. Kein Klartraum, in keiner Nacht. Aber zumindest meine Laune ist besser.

Tag 35

Ich glaube, ich hatte drei Sekunden lang einen Klartraum. Vielleicht waren’s auch drei Minuten. Im Traumland sind Raum und Zeit höchst schwammige Größen. Der Traum ging jedenfalls so: Ich will einen Raum betreten. Doch plötzlich wird der Betonboden unter mir zu einer steilen Rampe, und eine schwere dunkle Holzkommode schießt von vorne auf mich zu. Das Ding ist mächtig, wie ein tonnenschwerer Zug. So was kann man nicht aufhalten. Oder doch? „DAS IST EIN TRAUM. DU TRÄUMST“, sagt etwas in mir, und ich drücke die Stopp-Taste. Und schwups, ist die Holzkommode weg. Einfach so, verschwunden. Und ich wache grinsend auf. Ich bin Wonder Woman.

Tage 36–42

Zu Bett zu gehen stresst mich mittlerweile weniger. Wenn ein Klartraum passiert – fein. Wenn nicht – auch okay. „War der Kommoden-Vorfall wirklich ein luzider Traum oder nur Wunschdenken?“, frage ich mich. Wie überprüft man einen Klartraum? Im Schlaflabor, mit verkabeltem Kopf, aber nicht mal da wird das Ergebnis hundertprozentig beweisbar sein. Wichtig ist das Gefühl, das bleibt. Es ist positiv. So, wie ich es damals als Kind erlebt habe. Und ich habe eine Ahnung davon bekommen, dass da eine ganze Welt hinter meinen geschlossenen Augen liegt. Eine, die ich nicht verstehe, aber Stück für Stück entdecken kann.

Was mir der Selbstversuch aber eigentlich vor Augen geführt hat: Wann ich schlecht schlafe (bei zu viel Wein, zu viel Zucker). Was ich brauche, um runterzukommen (kein Netflix). Und zumindest sind mir seit geraumer Zeit keine Zähne mehr ausgefallen. Und auch das Klo im Traum habe ich nicht gebraucht. Also eigentlich nicht so schlecht, oder?

Kennst du schon unseren Podcast mit Dr. Brigitte Holzer: „Wie wir lernen bewusst zu träumen"?