Warum wir nach Minimalismus streben
Forscherin Bernadette Kamleitner erklärt die neue Sehnsucht nach dem Weniger.
Bewusst zu leben und sich von unwichtigen Dingen zu trennen liegt im Trend. Aber welche Bedeutung hat Minimalismus für uns wirklich und sind wir überhaupt dafür geschaffen?
Warum kann es uns glücklich machen, weniger zu besitzen?
„Weil wir mehr Dinge haben, als wir psychologisch unser Eigen nennen können. Eine befriedigende Art von Besitz empfinden Menschen für Dinge, zu denen sie auch eine Beziehung haben und die sie entsprechend wertschätzen können. Es braucht Zeit und Erfahrungen mit Objekten. Das lässt sich nur für eine begrenzte Anzahl von Dingen realisieren. Besitz, der darüber hinausgeht, kann uns vom Wesentlichen abhalten – und zu einer Belastung werden.“
Eine befriedigende Art von Besitz empfinden Menschen für Dinge, zu denen sie auch eine Beziehung haben.
Minimalismus nimmt an Bedeutung zu. Welche gesellschaftliche Entwicklung steckt dahinter?
„Generell gilt: Was nur wenige aus freien Stücken schaffen, wird bewundert. Viel zu haben war jahrhundertelang nur wenigen möglich – ein sichtbares Signal dafür, dass es jemand an die Spitze der sozialen Hierarchie geschafft hat. Heute ist es bei uns fast jedem möglich, sehr viel zu besitzen. Der bewunderte Kontrast liegt jetzt darin, bewusst zu leben und mit weniger auszukommen, ohne dies zu müssen.“
Vielleicht brauchen wir einfach weniger? Statt eine DVD-Sammlung zu besitzen, kann ich auch digitale Angebote nutzen ...
„Ja, durch die zunehmende Digitalisierung der Gesellschaft hat die Bedeutung materieller Güter abgenommen. Digital zu sein bedeutet, überall und jederzeit flexibel zu sein. Materielle Besitztümer sind an einen Ort gebunden, brauchen Platz und Kraft, um bewegt zu werden – und Verantwortung. Das wird immer häufiger als Belastung wahrgenommen. Im Kontrast zur digitalen Flexibilität legen uns materielle Besitztümer eher fest und werden zunehmend auch – im Kontrast zu Sharingangeboten – als Verlust von Freiheit und Wahlmöglichkeiten empfunden.“
Besitz, der darüber hinausgeht, kann uns vom Wesentlichen abhalten – und zu einer Belastung werden.
Ist Besitz wirklich so belastend?
„Besitz ist für Menschen wichtig. Der Mensch steht nicht zuletzt deshalb an der Spitze der Nahrungskette, weil er Dinge besitzt und diese auch zu benutzen versteht. Unsere Besitztümer erlauben uns, Dinge zu tun, die unseren ureigenen Wirkungsraum bei weitem übersteigen. Dadurch, dass wir Werkzeuge besitzen, können wir Bäume fällen und Steine spalten – ein Ding der Unmöglichkeit, hätten wir nur unsere bloßen Hände. Kurz: Der Mensch strebt nach Besitz, weil Besitz uns Sicherheit geben und unsere Möglichkeiten dramatisch erweitern kann. Und dabei hilft, unsere eigene Identität zum Ausdruck zu bringen. Der Trend zum Minimalismus ist daher immer nur ein Wunsch nach Reduktion, kein Wunsch nach vollständigem Verzicht.“
Menschen sind Sammler – wie passt hier Reduktion als Lebensmotto dazu?
„Sammeln ist ein ganz besonderes Phänomen, das mit einfach nur viel haben, sehr wenig gemein hat. Menschen, die sammeln, haben fast immer eine Beziehung zu jedem Element ihrer Sammlung. Sammlungen werden wirklich psychologisch besessen und wertgeschätzt und sind damit zu bedeutungsvoll, um als Ballast empfunden zu werden.“
Bernadette Kamleitner ist Leiterin des Instituts für Marketing und KonsumentInnenforschung an der Wiener Wirtschaftsuniversität.