Sind die „Blue Zones“ Fake News?
110 Jahre alt werden und sich dabei bester Gesundheit zu erfreuen? Natürlich möchten wir alle wissen, wie das geht. Langlebigkeit ist ein lohnendes (und lukratives) Forschungsgebiet. Es hat nur einen Haken: die Datenlage.

Michael Paukner
Als Saul Justin Newman vergangenen Herbst den Ig-Nobelpreis gewann, ging ein schmerzhafter Riss durch die Welt der Demografen. Gut möglich, dass du's nicht gemerkt hast: Die wenigsten von uns sind Demografen und Forschungsfehden, selbst in populäreren Wissenschaften, finden meist jenseits des öffentlichen Interesses statt.
Diesmal war das anders. Lag es daran, dass noch nie ein Demograf mit dem (satirischen, aber wissenschaftlich dennoch profunden) Preis geehrt wurde? Nein. Lag es an Newsmans schrillem Anzug mit Tetris-Muster? Auch nicht.
„Lausige“ Datenlage
Vielmehr lag es an dem Forschungsfeld selbst: Newman erhielt den Ig-Nobel für seine Recherche zu den Blue Zones und den Beweis, dass Daten zu den dort ansässigen Superhundertjährigen von „kreativer Buchführung, Pensionsbetrug und fehlerhaften Geburtsurkunden“ dominiert werden – so die Begründung der Jury.
Konkret: „Für den humorvollen, aber ernsthaften Nachweis“, dass viele angebliche Hundertjährige in Wirklichkeit längst verstorben waren, während ihre Pensionszahlungen munter weiterliefen; so hätte etwa der „älteste Mann der Welt“ drei unterschiedliche Geburtsdaten, eines davon bewusst gefälscht.
Was sind die Blue Zones?
Okay, einen Schritt zurück. Die Blue Zones, das sind jene Regionen der Welt, die 2005 durch den National-Geographic-Journalisten Dan Buettner und den belgischen Forscher Michel Poulain Weltruhm erlangten, tummelten sich dort doch ganz besonders viele „Superalte“ herum, die sich noch dazu bester Gesundheit erfreuten:
Okinawa (Japan)
Sardinien (Italien)
Nicoya (Costa Rica)
Ikaria (Griechenland)
Dazu kommt noch die Adventistengemeinde Loma Linda in Kalifornien, die ursprünglich nicht Poulains strenge Kriterien für eine Blue Zone erfüllte, aber von Dan Buettner nachnominiert wurde. Buettner ging davon aus, dass sich seine amerikanischen Leser*innen mehr für das Thema erwärmen würden, wenn es auch eine „eigene“ Blue Zone gab und dass Leserinteresse in diesem Fall wichtiger war, als methodische Kohärenz.
Buettner und die Power Nine
Ja, bereits daran ließe sich Kritik üben. Aber Buettner war ein Idealist. Er wollte keine theoretische Studie, sondern eine praktisch umsetzbare Blaupause für gesünderes Leben schaffen. In seinen Büchern definierte er deshalb die sogenannten Power Nine, also jene Merkmale, die er als entscheidend für die Langlebigkeit seiner erforschten Superalten sieht:
Move Naturally – Kein gezieltes Training, sondern natürliche Bewegung im Alltag (z. B. Gehen, Gartenarbeit).
Purpose – Lebenssinn (Ikigai oder Plan de Vida). Klare Lebensziele steigern die Lebenserwartung um bis zu sieben Jahre.
Down Shift – Stressabbau durch Rituale wie Mittagsschlaf oder Meditation.
80% Rule – Hara Hachi Bu: Aufhören zu essen, wenn der Magen zu 80 % voll ist.
Plant Slant – Pflanzenbetonte Ernährung mit wenig Fleisch (ca. fünfmal im Monat), Schwerpunkt auf Hülsenfrüchten, Vollkorn, Nüssen und Gemüse
Wine @ 5 – Mäßiger Alkoholkonsum (z. B. täglich 1–2 Gläser Wein in Gesellschaft).
Belong – Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft (religiös oder sozial) verlängert das Leben um 4–14 Jahre.
Loved Ones First – Familie als Priorität (enge Bindungen, Mehrgenerationenhaushalte).
Right Tribe – Soziales Umfeld, das gesunde Gewohnheiten fördert.
(Quelle: Blue Zones LLC, National Geographic, Buettner 2008/2015)
Gesellschaftlicher Wandel statt individueller Disziplin
Bemerkenswert an Dan Buettners Blue-Zone-Gesamtwerk (mittlerweile sind es echt viele Bücher, Artikel, eine Netflix-Serie etc.) ist seine Überzeugung, man könne, gesundes Altern demokratisieren. Auf seiner Website schreibt er u.a.: „Our purpose is to empower everyone, everywhere to live better, longer.“
Dabei sieht Buettner die Verantwortung aber nie auf den Schultern des einzelnen Individuums („Putting the responsibility of curating a healthy environment on an individual does not work.“), stattdessen setzt er auf städtebauliche Maßnahmen wie mehr Geh- und Fahrradwege und Systemänderungen wie etwa Schulessen ohne Zucker, Supermarktkassen ohne Quengelzone… Sein Credo: Die gesunde Wahl soll immer auch die einfachere Wahl sein!
Tatsächlich gibt der Erfolg seinem Ansatz recht: In der US-amerikanischen Kleinstadt Albert Lea (Minnesota) stieg die Lebenserwartung durch Blue-Zones-Projekte um 3,2 Jahre, während Gesundheitskosten um 40 % sanken. (Details gibt's hier nachzulesen.)

Luigi Corda
Wie belastbar sind die Blue-Zone-Fakten?
Saul Justin Newman sieht das alles ein wenig anders. Nicht, dass er etwas gegen Linsensuppe oder Spaziergänge hätte. Aber er hat was gegen schlampige Daten. Und davon scheint es in den fünf Blue Zones leider einen ganzen Haufen zu geben. Das verbindende Merkmal der Regionen, schreibt Newman sei nicht deren hoher Konsum an pflanzlicher Nahrung, sondern die große Armut, die es attraktiver mache, Geburtsdaten zu fälschen, um an Sozialleistungen zu gelangen. In seiner Dankesrede beim Ig-Nobelpreis kommentierte er: „Der Trick, 110 zu werden? Zieht dorthin, wo Geburtsurkunden selten sind und bringt euren Kindern Pensionsbetrug bei.“
In einem Interview mit The Conversation erklärt Newman das genauer: „Ich habe 80 Prozent der Menschen, die weltweit vermeintlich über 110 Jahre alt sind, ausfindig gemacht (die anderen 20 Prozent stammen aus Ländern, die man nicht sinnvoll analysieren kann). Fast keiner von ihnen hat eine Geburtsurkunde.“
In Okinawa läge das etwa daran, dass die Archive während des Zweiten Weltkriegs von den Amerikanern bombardiert wurden. Danach gab es zwar eine Besatzungsregierung, die demografische Daten brav wieder aufgenommen hat – aber die sprach eine andere Sprache und arbeitete womöglich nach einem anderen Kalender… Dort, wo es in den Blue Zones Geburtsurkunden gibt, fehlten hingegen oft die Sterbeurkunden. „Wer nicht meldet, dass er gestorben ist, erricht statistisch gesehen eher ein sehr hohes Alter“, sagt der Forscher mit unverhohlenem Sarkasmus.
Hat er recht? Klingt so. Aber ganz so einfach ist es auch wieder nicht. Newmans Arbeit wurde nie einem Peer-Review-Prozess unterzogen, eine unabhängige Überprüfung seiner Recherche fehlt. Auch dürften einige Fälle, die er anekdotisch erzählt (z.B. über Pensionsbetrug in Japan) zwar belegt, aber gar nicht innerhalb der Blue Zones vorgefallen sein. Demografische Altersforschung ist eine verwaschene Angelegenheit.
Aber wo die Demografie an Grenzen stößt, kann man sich auf die Genetik verlassen. Eine – vergleichsweise – präzise Wissenschaft. Messbar, überprüfbar, hurra.
Zwischen Gesundheit und Marketing
Der Genetiker Joris Deelen forscht am Max-Planck-Institut für Biologie des Alterns. In der Fehde Newman vs. Buettner nimmt er eine wohltuend pragmatische Position ein: Klar seien Altersangaben von 110 Jahren oft fehlerhaft, meint er in einem Interview mit Zeit Online: „An Newmans Arbeit scheint etwas Wahres dran zu sein […] Rentenbetrug ist kein unbekanntes Phänomen.“
Gleichzeitig warnt er davor, das gesamte Konzept der Blue Zones aufgrund von Einzelfällen zu verwerfen. Die abgeleiteten Gesundheitsempfehlungen – viel Gemüse, Bewegung, soziale Bindungen – wären ja alle im Kern sinnvoll, auch wenn „die Datenlücken ärgerlich sind.“
Die Blue Zones – das ist eben auch ein Lehrbeispiel für geschicktes Marketing. Und Marketing braucht immer eine Geschichte, die sich gut erzählen lässt. „Werde 110 Jahre alt – mit diesen einfachen Rezepten“ ist genau so eine Geschichte. Wir alle hören sie gerne, sie gibt uns Hoffnung und macht das oft komplexe Ringen um Gesundheit leichter.
Auch deshalb bricht Joris Deleen eine Lanze für die Blue Zones: Sie seien als Forschungsrahmen wertvoll, um Umwelteinflüsse auf Langlebigkeit zu studieren – trotz Datenproblemen. Und: „Es ist schade, wenn Genauigkeit zugunsten einer einfachen Geschichte zurücktritt. Aber wenn die Blue Zones dazu führen, dass Menschen gesünder leben, bin ich damit zufrieden.“
Wir bei carpe diem sind es auch.

Blue Zone Cooking: Essen für ein langes Leben
Kennst du die Blue Zones? Darunter versteht man fünf Regionen in der Welt, in denen auffällig viele Menschen hundert Jahre oder älter werden. Wir gehen auf kulinarische Spurensuche in Sachen Langlebigkeit. Weiterlesen...
QUELLEN (Auswahl):
Studie von Saul Justin Newman zum Nachlesen
Artikel im New York Magazine / Intelligencer
Max Planck Institut für die Biologie des Alterns
Deutsche Longevity Gesellschaft
American Journal of Lifestyle Medicine
albertlea.bluezonesproject.com
Zeit Online: Blue Zones – Zu alt, um wahr zu sein
BUCHTIPP:
Dan Buettner: „The blue zones: 9 lessons for living longer from the people who've lived the longest“ (National Geographic Society, 2008)

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