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Ganz banal vorweg: Wo fängt eigentlich Philosophie für Sie an?
Lisz Hirn: „Wie man es klassisch im Philosophieunterricht lernt: beim Staunen, Zweifeln und Betroffensein. Philosophieren passiert in der Auseinandersetzung mit der Welt, nicht im stillen Kämmerlein.“

Ihre Spezialgebiete sind philosophische Praxis und angewandte Philosophie. Wie geht das überhaupt? Ist die Philosophie für die meisten Menschen nicht das Theoretischste, was man sich vorstellen kann?
„Natürlich ist die Theorie wichtig, aber ohne praktische Anwendung bleibt Philosophie nichts als eine intellektuelle Spielerei. Nicht, dass ich etwas gegen Spielereien hätte. Es gibt kaum etwas Tröstlicheres und Beruhigenderes als die Beschäftigung mit Logik … Die angewandte Philosophie macht sich aber nur gerade so viel aus einem Philosophen oder einer Philosophin, wie ihre Theorie mit ihrer Lebenspraxis übereinstimmt.“

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Wie funktioniert das bei Ihnen? Wie gleichen Sie sich mit der Realität ab?
„Neben dem Schreiben und Unterrichten habe ich seit jeher Projekte gemacht, die soziale, politische und kulturelle Problematiken adressieren. Da muss man zumindest mit einem Bein am Boden bleiben.“

Wie verändert das Denken die Menschen – und wie das Nichtdenken?
„Es gibt den netten Spruch: „Wenn du tot bist, weißt du nicht, dass du tot bist, aber für deine Umwelt ist es hart. Genauso ist es, wenn du dumm bist.“ Das Problem ist, dass wir alle zumindest von Zeit zu Zeit den Verstand und die Vernunft ausschalten. Manchmal zum ungünstigsten Zeitpunkt.“

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Sie sind ja auch in der Jugend- und Kinderarbeit unterwegs – stellen Sie da schon fest, dass die neue Zeit und ihre technischen Möglichkeiten Einfluss nehmen auf die Köpfe junger Menschen? „Selbstverständlich tun sie das. Aber auch auf die Köpfe der Älteren, sprich uns. Es wäre vermessen zu sagen, wir hätten das unter Kontrolle. Vielmehr müssen wir ein Mindestmaß an Souveränität über unsere Maschinen gewinnen – und über die Konzerne, die enorme Macht akkumulieren.“

Sie betreiben eine Philosophische Praxis. Mit welchen Fragen kommen die Menschen zu Ihnen? Und in welcher Konstellation?
„Oft mit moralischen Dilemmata. Ein Firmenchef, der aufgrund roter Zahlen Leute kündigen muss und das mit seinem Gewissen und Werten nicht vereinbaren kann, oder Dilemmata in Sachen Liebe, oder es stellt sich plötzlich und radikal für jemanden die Sinnfrage. Es kommt die Politikerin genauso wie der Manager oder die Hausfrau. Es menschelt!“

Tatsache ist, dass wir, um viele Probleme lösen zu können, erst mal realisieren und analysieren müssen, was denn eigentlich das Problem ist.

Mag. Dr. phil. Lisz Hirn, Philosophin

Ohne Politikern und Managern zu nahe treten zu wollen – da interessiert uns jetzt tatsächlich mehr die, sagen wir mal: Mitte der Gesellschaft.
„Und da hätten wir schon das nächste Missverständnis: Die sind die Mitte der Gesellschaft. Es geht dabei auch um kleinere Unternehmerinnen und die Bezirkspolitik, nicht nur um Großverdiener und Spitzenpolitik.“

Und wie funktioniert so eine Stunde bei Ihnen ganz konkret?
„Jede Stunde verläuft so, wie der Gast denkt – also immer anders.“

Kann uns die Philosophie tatsächlich dabei helfen, unsere Probleme zu lösen? Oder ihnen zumindest eine andere Perspektive zu geben?
„Tatsache ist, dass wir, um viele Probleme lösen zu können, erst mal realisieren und analysieren müssen, was denn eigentlich das Problem ist. Um es dann zu lösen, braucht es oft auch andere Disziplinen, Techniken und Technologien. Ich bin froh, ein gutes und kompetentes Netzwerk an Psychologen, Anthropologen, Künstlern und so weiter anbieten zu können.“

Kann die Philosophie uns dabei helfen, uns in dieser extrem herausfordernden Zeit und Welt zu verankern?
„Moment mal! Nicht überall, in allen Gewässern und bei jedem Wetter kann und sollte man ankern! Aber natürlich, die Ruhe zu bewahren, wenn man in Not gerät, mit Gelassenheit und Humor zu navigieren, das halte ich für empfehlenswert. Immerhin kommen wir jedenfalls nicht lebendig aus der Sache raus, die man Leben nennt. Freilich ist das leichter gesagt als getan. Aber die Philosophie hilft, diese Fähigkeiten zu üben.“

Und um mal das große Ganze ins Spiel zu bringen: Welchen Einfluss kann Philosophie auf Gesellschaft, auf Wirtschaft, auf Politik nehmen? Gibt es da Beispiele aus der Geschichte?
„Zu viele, nicht alle davon gingen gut aus – wenn wir uns zum Beispiel Platons Versuche eines Philosophenstaats in Sizilien oder die Anwendung Marx’scher Philosophie in kommunistischen Regimen ansehen. Allerdings wäre ohne humanistische Philosophie eine Französische Revolution schwer vorstellbar gewesen und damit auch die Menschenrechte. Sie sehen, auch in dieser Angelegenheit gibt es kein Schwarz-Weiß. Ich gehe sogar so weit zu sagen, dass gerade die Idee und das Konzept von Demokratie seit ihren Anfängen in der griechischen Antike nicht ohne Philosophie denkbar wäre und ist.“

Das Gegenteil von schlecht muss nicht gut sein – es kann noch schlechter sein.

Paul Watzlawick

Haben Sie einen Lieblingsphilosophen? Und Lieblingssätze, die Sie selbst durchs Leben bringen?
„Nein, habe ich nicht. Es gibt welche, mit denen ich stärker in Resonanz komme, Nietzsche und Camus, aber auch de Beauvoir oder Russell. Einer meiner Lieblingssätze ist aber von einem Psychologen, Paul Watzlawick: ‚Das Gegenteil von schlecht muss nicht gut sein – es kann noch schlechter sein.’ Das rückt vieles in eine andere Perspektive.“

Sie waren und sind beruflich in Nepal, Japan, Peru und Marokko unterwegs. Wie sehr unterscheidet sich der Philosophiebegriff anderer Kulturen von dem unseren?
„Hat sich Ihr eigener Blick auf die Philosophie dadurch verändert? Achtung! Was logisch folgt, was ein gutes Argument ist oder nicht, ist nicht kulturabhängig. Logik ist eine Sache des Denkens und nicht der Kultur. Moral und Werte hingegen – die unterscheiden sich oft in ihren Traditionen und ihrer Ausprägung – und darin, wie eine Gesellschaft diese legitimiert. Unterschiedlich ist auch, ob die Politik oder die Gesellschaft vor Ort kritisches Denken möglich macht und fördert. Und wie sich die Religion zur Philosophie positioniert.“

Sind Religionen Philosophien oder eher das Gegenteil davon?
„Religionen versuchen manchmal, die Philosophie für ihre Sache einzuspannen. Im Mittelalter wurde die Philosophie als Magd der Theologie wahrgenommen. Aber Philosophie muss sich jeglichem Glauben gegenüber kritisch verhalten. Das Hinterfragen hört nie auf, während jede Religion ihre Dogmen hat.“

Gibt es aus philosophischer Sicht einen Sinn des Lebens? Einen objektiven?
„Nein! Albert Camus, neben Viktor Frankl einer der großen Sinnsucher des 20. Jahrhunderts, meinte einmal, dass sich die größte Ersparnis im Bereich des Denkens damit erzielen lässt, die Nichtverstehbarkeit der Welt hinzunehmen und sich um den Menschen zu kümmern. Genau das sehe ich als das Anliegen aller philosophischen Praxis.“

Heute geh ich zu meiner Philosophin

Heute geh ich zu meiner Philosophin

Was Sokrates oder Aristoteles wohl sagen würden? Zur Zeiteinteilung. Zu den Dingen, die einen beschäftigen und manchmal belasten. Unsere Autorin Ursula Neubauer hat sie gefragt. Also, indirekt – indem sie sich Termine in einer philosophischen Praxis ausgemacht hat. Einmischung aus der Antike inklusive. Weiterlesen...

Mag. Dr. phil. Lisz Hirn ist als Philosophin, als Publizistin und als Dozentin in der Jugend und Erwachsenenbildung tätig sowie als freiberufliche Künstlerin an internationalen Kunstprojekten und Ausstellungen beteiligt. Sie ist Gast in der carpe diem-Podcast-Folge #214.